"Ein Frauenzimmer mit gefährlicher Intelligenz"

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Lou Andreas-Salome war keine Muse berühmter Männer, sondern lebte, "wie es ihr paßte"

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Lou Andreas-Salome war keine Muse berühmter Männer, sondern lebte, "wie es ihr paßte"

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Die Berliner Psychotherapeutin Irmgard Hülsemann schrieb das spannende Porträt einer faszinierenden Frau. Mit der Kompromiß- und Rücksichtslosigkeit der eigenen Lebensgestaltung als Gegenpol zu tiefem, intuitivem Verständnis für ihre Mitmenschen, wird Lou Andreas-Salome vor dem Szenario der politischen und intellektuellen Umbrüche der Jahrhundertwende als bemerkenswerte Vorkämpferin feministischer Lebensentwürfe lebendig.

Zu ihrer Geburt gratuliert Zar Alexander II. persönlich dem überglücklichen, bereits 57jährigen Vater und der enttäuschten Mutter, die nach fünf Söhnen "nur" eine Tochter geboren hat. 70 Jahre später wird Sigmund Freud die Tochter des hochangesehenen St. Petersburger Generals als "Versteherin par excellence" bezeichnen, mit der er einen regen Briefwechsel unterhält.

Dazwischen liegt das aufregende, rastlose Leben einer Frau, die früh einen entscheidenden Vorsatz faßte: "Wir wollen doch sehen, ob nicht die allermeisten sogenannten ,unüberwindlichen Schranken', die die Welt zieht, sich als harmlose Kreidestriche herausstellen!" Ihre Kindheit bietet die besten Voraussetzungen für ein ungewöhnliches Leben: Im Haushalt der vermögenden Familie gibt es Dienstboten verschiedenster Nationalitäten und Religionen, die - so lehrt sie ihr Vater - alle geachtet werden müssen. Man spricht Französisch, Deutsch, Russisch in der Familie und lebt im großbürgerlichen Haushalt, alle Vorzeichen politischer Umbrüche ignorierend, die sich seit 1861 mit der Aufhebung der Leibeigenschaft für 47 Millionen Bauern abzeichnen.

Die kleine Louise wächst als "Vater-Tochter" unter älteren Brüdern ohne Mädchenfreundschaften auf und wahrt zeitlebens respektvolle Distanz zur Mutter. Später wird sie in jedem Mann einen "Brudermenschen" suchen, und ihre Spontaneität und Unbekümmertheit im Umgang mit Männern wird ihr manche Unannehmlichkeit bescheren. Da ihr die "Fesseln des Geschlechts" in ihrer Familie nie angelegt werden, trifft sie bald alle Entscheidungen ohne Rücksicht auf Konventionen. Als zweites lebenslanges Kraftpotential erweist sich die früh erlernte Fähigkeit, Einsamkeit als positive, für Reflexion und Beobachtung notwendige Lebensphase zu erleben. Aus beengenden oder bedrückenden Beziehungen flieht sie ohne Rücksicht auf ihre Partner immer wieder in die Abgeschiedenheit.

Der Petersburger Enge entflieht Louise Salome nach Zürich, wo vor der Jahrhundertwende viele Russen studieren. Im Gegensatz zu den politisch aktiven "narodniki", die eine Veränderung der zaristischen Herrschaft vorbereiten, ist Louise, die in Begleitung ihrer Mutter reist, auf das Studium der Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte konzentriert und lebt in ihrer eigenen Welt ohne politisches Engagement. Lungenblutungen und schlechter gesundheitlicher Allgemeinzustand zwingen sie zur Unterbrechung der Studien. Ein Romaufenthalt soll zur Genesung führen und bringt sie für viele Jahre in emotionale Turbulenzen.

In Rom lernt sie den Philosophen Paul Ree kennen, der ihr fähig erscheint, ihr "intellektuelles Wachstum" zu fördern. Allerdings quittiert er - wie nach ihm viele Männer - das Interesse an ihr mit einem Heiratsantrag. Wütend wird er abgeschmettert, da sie nicht gewillt ist, ihre "Freiheit, die mir das Herrlichste und Schwersterrungene auf Erden ist", dem Freund und Schüler Friedrich Nietzsches zu opfern. Nietzsche ist Professor der Philosophie in Basel und bereits von zahlreichen Leiden gezeichnet. Lou Salome holt ihn mit leidenschaftlichem philosophischem Interesse für einige Zeit in die Welt zurück. Die Seelenverwandtschaft mit Nietzsche und ihre Zuneigung zu Ree will sie auf ungewöhnliche Art nutzen: Lou, die allzu große emotionale Nähe und "Selbstauflösung" fürchtet, schlägt vor, zu Dritt zu leben, ohne einen von beiden zu heiraten, aber auch ohne sexuelle Beziehungen. Die Männer - beide verliebt in Lou - akzeptieren.

Die Dreiecksbeziehung endet im totalen Zerwürfnis der Philosophen und mit haßerfüllten Briefen Nietzsches an Lou. Sie interessiert sich immer intensiver dafür , wie es "in seinem Inneren aussieht", wird ihm jedoch nicht zur "Jüngerin" und weist jede Annäherung empört ab. Zehn Jahre nach der Begegnung mit Nietzsche verfaßt sie ein Buch über ihn, das ihre spätere Beschäftigung mit Psychoanalyse bereits ahnen läßt. Sie meint, daß Nietzsche "nicht belehren, sondern bekehren" will, "sein Herz im Gehirn stecken hat", und es bereitet ihr Unbehagen, daß "in N.s Charakter ein Heldenzug liegt": "Wir erleben es noch, daß er als der Verkünder einer neuen Religion auftritt, und dann wird es eine solche sein, welche Helden zu ihren Jüngern wirbt", schreibt sie 1882 in ihr Tagebuch.

Für die finanziell unabhängige Lou folgen Reisen nach St. Petersburg, Paris und schließlich Wien, wo sie alle extremen philosophischen Strömungen gierig aufsaugt und nächtelang diskutiert. Wie schon zuvor ihre Reflexionen über Pubertät und Erwachsenwerden, faßt sie auch die stete Suche nach "Wachstum" und ihren Freiheitsfanatismus in schwülstig-überschwengliche Worte, die viele biographische Rückschlüsse zulassen. Über ihr Privatleben schweigt sie sonst auch gegenüber engsten Angehörigen.

In Wien lernt Lou die Geschwister Pineles kennen. Broncia Pineles-Koller ist Malerin, ihr Bruder Friedrich ein auf Nerven- und Drüsenleiden spezialisierter Arzt. Er wird vom "Brudermenschen" zum fürsorglichen Liebhaber, der nach vielen Jahren auch an ihr scheitert. Zwar wandert sie mit ihm über die Alpen von Wien nach Venedig und verbringt viel Zeit am Sommersitz der Familie Pineles in Oberwaltersdorf bei Baden, doch letztlich kehrt sie in die "Einsamkeit" und zu ihren philosophischen Studien nach Berlin zurück.

Auch ihre "Einsamkeit" in Berlin ist von unüblicher Art, hat sie doch den Persienforscher und Sprachwissenschaftler Friedrich Carl Andreas geheiratet, der in Java geboren wurde, mit seinem abenteuerlichen Flair sofort Eindruck auf Lou macht und sie leidenschaftlich liebt. Die Verbindung wird ihr zur lebenslangen äußeren Stütze und ihm zum Desaster. Denn Lou lehnt es ab, eine sexuelle Beziehung mit dem Ehemann einzugehen. Einem Mordversuch in Rage folgen 40 Jahre Resignation im gemeinsamen Haus. Lou bewohnt den oberen Stock, reist zu ihren Liebhabern Pineles und später Rainer Maria Rilke, zu ihren Familienangehörigen und zu Vorlesungen. Der Ehemann wohnt im Erdgeschoß und beglückt die Haushälterin mit zwei Kindern.

So, wie sie ihre Ehe "konstruiert" hat und erstaunt und unwirsch reagiert, wenn sich die anderen nicht an ihr "Regiebuch" halten, gestaltet sich auch die heftige Liebesbeziehung der fast 40jährigen Lou mit dem knapp über 20jährigen Rilke nur zu Beginn enthusiastisch, wie aus Briefen hervorgeht. Nach gemeinsamen Reisen nach Rußland, wo sie Tolstoj besuchen (der Rilke nicht empfangen will, aber Lou nicht abwimmeln kann), bringt sich Lou in Berlin "in Sicherheit" vor dem von Stimmungsschwankungen gepeinigten Rilke. Obwohl sie über erste Kenntnisse der Psychoanalyse verfügt, rät sie Rilke von der Analyse ab: "Sich die Teufel austreiben zu lassen, die im Bürgerlichen nur peinlich und störend sind, hätte nur dann Sinn, wenn er bereit sei, auf sein Schreiben zu verzichten." Intuitiv weiß sie, daß für den Künstler das Kunstwerk und nicht die Analyse der Weg zu Heilung ist.

Mit 50 Jahren reist Lou Andreas-Salome nach Wien, um bei Sigmund Freud, dessen Schriften sie bereits studiert hat, Vorlesungen zu hören. Von Oktober 1912 bis April 1913 ist sie als regelmäßige Teilnehmerin der Versammlungen der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft vermerkt, nachdem Freud sie als "Frauenzimmer mit gefährlicher Intelligenz" dazu eingeladen hat. Sie wird zum gern gesehenen Familiengast und steht in ständigem Diskurs mit Freud, der sie bald als "hochbedeutende Frau" schätzt. Während Freud ihr "Interesse von rein intellektueller Natur" genießt und mit ihr über Neurose, Narzißmus und Perversion diskutiert, unterhält sie mit dem viel jüngeren Analytiker Tausk eine intensive Liebesbeziehung, die dessen Abwendung von Freud überdauert.

Sie ist fasziniert von der Psychoanalyse, eröffnet in Göttingen eine eigene Praxis und veröffentlicht laufend psychoanalytische Texte. Sie steht in ständigem Briefkontakt mit Freud, der ihr Patienten vermittelt, als sie in empfindliche finanzielle Nöte gerät und fürchtet, die nach der Revolution verarmten russischen Verwandten nicht mehr unterstützen zu können. Auch ein umfangreicher Briefwechsel mit Anna Freud, von der sie als "Tante" angesprochen wird, ist erhalten. Besonders fasziniert Lou der fließende Übergang zwischen Krank und Gesund bei ihren Patienten. Es treibt sie kein Helfersyndrom, sondern die unstillbare Neugier nach Verstehen, wobei ihr schnell klar wird, "daß man mit niemandem weitergelange, als man mit sich gekommen sei."

Den Lebensabend verbringt sie im Haus "Loufried" in Göttingen mit ihrem Mann, der ihr im Alter zum wichtigsten Gesprächspartner und "Lebensmenschen" wird. Bis zu ihrem Tod im Februar 1937 sieht man sie hochbetagt, stolz aufrecht gehend, mit der Hausangestellten kommandierend und die Nazis ignorierend, durch Göttingen eilen, noch immer ganz "Exzellenz". Die Biographin Irmgard Hülsemann scheute sich nicht, eigene psychologische Übelegungen zu Lou Andreas-Salome anzustellen. Sie bereichern das Buch und sind doch so zurückhaltend, daß sie die Fülle der Fakten und die Zugänge zum Leben dieser beeindruckenden Frau nicht beeinträchtigen.

LOU - DAS LEBEN DER LOU ANDREAS-SALOME Von Irmgard Hülsemann Claasen Verlag, München 1998 545 Seiten, geb., öS 423,

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