Jamling Tenzing Norgay: "Ein Führerschein für den Everest"

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Jamling Tenzing Norgay, Sohn des berühmtesten Sherpas der Welt und selbst Everest-Gipfelstürmer, über Unfälle, Profilierungs-Sucht und heilige Berge.

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Jamling Tenzing Norgay, Sohn des berühmtesten Sherpas der Welt und selbst Everest-Gipfelstürmer, über Unfälle, Profilierungs-Sucht und heilige Berge.

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Von Tenzing Norgays sechs Kindern ist Jamling Tenzing Norgay der einzige, der in die Fußstapfen seines berühmten Vaters tritt: 1996 stand er selbst auf dem Gipfel des Mount Everest. Er lebt im Familienanwesen in Darjeeling, führt eine Kletterschule und Touristen durch den Himalaya und tingelt als Motivationstrainer um die Welt. Die FURCHE sprach mit ihm über seinen Vater, Everest-Tourismus und den diesjährigen Sherpa-Streik.

DIE FURCHE: Ihr Vater hat gesagt: "Ich bin auf den Everest gestiegen, damit ihr es nicht tun müsst." Trotzdem folgten Sie ihm 40 Jahre nach Erstbesteigung auf den Gipfel. Warum?

Tenzing Norgay: Ich war 21, als er gestorben ist, und obwohl wir eine gute Beziehung hatten, war sie distanziert - auch räumlich: Er hat uns so weit weg wie möglich von den Bergen gedrängt, mich in die USA zum Studieren geschickt. Wir haben nicht so viel Zeit miteinander verbracht, wie ich mir gewünscht hätte. Aber es ist mein Schicksal, zurückzukommen und sein Erbe aufrecht zu erhalten. Und ich liebe die Berge und die Natur, die Hälfte vom Jahr verbringe ich draußen. Dass ich den Everest bestiegen habe, war für mich die einzige Chance, ihm meine Ehre zu erweisen, über ihn zu lernen und mich mit ihm verbunden zu fühlen. Danach hat mir mein Onkel übrigens verraten, dass mein Vater ihm, kurz bevor er starb, prophezeite, dass ich ihm auf den Everest folgen werde. Er wusste es, er kannte mich.

DIE FURCHE: Obwohl Sie in Darjeeling leben und auch als Ausbildner im Himalayan Mountaineering Institute gearbeitet haben, waren Sie selbst nie Schüler dort. Kann man in einem Kurs zum Bergsteiger werden?

Norgay: Viele Sherpas, die heute auf die großen Berge steigen, haben nie einen Kurs absolviert, sondern einfach durch Erfahrung gelernt. Das ist ein guter Weg, wenn man ihn langsam und konstant beschreitet. Natürlich braucht man theoretische Kenntnisse über das Wetter, Sicherheit oder erste Hilfe. Aber ohne Erfahrung ist man im Himalaya verloren. Dazu muss man einen gewissen Persönlichkeitszug haben, den alle echten Bergsteiger teilen: Wir spüren die gleiche Liebe zu den Bergen, zur Natur, zum Teamwork, und auch die Bereitschaft, Opfer zu bringen. Leider spüren viele Menschen, die heute auf den Everest steigen, das nicht. Sie zieht es nur wegen des Namens nach oben, aus Eitelkeit und Prestigedenken.

DIE FURCHE: Produzieren Alpinvereine oder das Himalayan Mountaineering Institute solche Menschen?

Norgay: Das kann man nicht so sagen, weil diese Absolventen sich zumindest bemühen, Bergsteigen richtig zu lernen und sich mit der Materie auseinanderzusetzen. Das muss der erste Schritt auf dem Weg zum Everest sein. Danach muss man die Fähigkeiten perfektionieren, sich langsam höhere Berge erarbeiten, und irgendwann kann man sich vielleicht an den Mount Everest heranwagen. Aber der Großteil derer, die sich heutzutage im Basecamp tummeln, haben überhaupt keine Bergfähigkeiten.

DIE FURCHE: Für diese Menschen präparieren Sherpas jedes Jahr eine möglichst sichere Route. Bei dieser Arbeit kamen im April sechzehn Menschen ums Leben. Nach diesem tragischen Unfall haben die Everest-Sherpas beschlossen, ihre Arbeit für heuer einzustellen. Eine richtige Entscheidung?

Norgay: Eine absolut überfällige Entscheidung. Natürlich ist es die persönliche Entscheidung jedes Sherpa, ob er am Everest arbeiten möchte, und jeder weiß, dass es gefährlich ist. Unfälle wie dieser lassen sich nicht vermeiden, aber man kann dafür sorgen, dass zumindest die Hinterbliebenen anständig abgesichert sind. Das ist die Verantwortung der Regierung, aber auch der kommerziellen Reiseveranstalter, die mit den von Sherpas geführten Everest-Expeditionen ja gutes Geld verdienen.

DIE FURCHE: Für die Sherpas ist der Everest heilig. Erlaubt Ihre Kultur überhaupt einen Gipfelsieg?

Norgay: In unserer Kultur ist jeder Berg heilig, weil wir glauben, dass dort die Götter leben. Wenn wir sie besuchen, dann sind wir nicht vom Ego getrieben, sondern weil wir uns damit unseren Lebensunterhalt verdienen. Der Berg ist für uns eine Quelle, alles Leben kommt von ihm, auch unser tägliches Brot. Chomulungma, wie wir den Mount Everest nennen, ist die Heimat der Göttin des ewigen Gebens. Sie gibt uns Wasser durch ihre Flüsse, und eine Lebensgrundlage, indem wir sie besteigen dürfen. Aber nur, wenn wir den Berg mit Respekt behandeln: Gewisse Teile betreten wir nicht, wir braten kein Fleisch am Berg und hinterlassen keinen Schmutz. Weder in der Umwelt noch in zwischenmenschlichen Beziehungen. Am Berg geht es um Harmonie. Leider halten sich viele westliche Bergsteiger nicht daran.

DIE FURCHE: Wem gehört denn der Mount Everest?

Norgay: Jedem. Aber er stellt für uns etwas anderes dar: Für Westler ist es ein Berg, der da ist, um bestiegen zu werden. Für uns ist es ein Ort des Glaubens, der Hingabe und des Respekts. Die trainierteste Kondition und die beste Ausrüstung sind wenig wert, wenn der Berg nicht bestiegen werden will. Es ist immer die Natur, die das letzte Wort hat. Menschen wie mein Vater waren Pioniere mit einer Leidenschaft für das Unbekannte. Heutigen Everest-Besteigern geht es vor allem um die persönliche Profilierung. Das ist ein großer Unterschied, und das macht es gefährlich.

DIE FURCHE: Wie kann man dem entgegenwirken?

Norgay: Man kann niemandem das Recht absprechen, den Everest zu besteigen, aber man könnte sicherstellen, dass die Menschen dafür ausreichend Erfahrung mitbringen. Wenn ein paar Sechstausender, zumindest ein Siebentausender und der Cho Oyu als einfacher Achttausender Voraussetzung für den Everest wären, gäbe es weniger Menschen dort oben, und diejenigen, die es trotzdem versuchen, wären besser vorbereitet. Ich wünsche mir so einen "Führerschein" für den Mount Everest.

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