Ein halbes Leben im Dauerlauf

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Bergläufe, Stiegenläufe, Marathons: Wenn es darum geht, an die eigene Schmerzgrenze – und darüber hinaus – zu gehen, ist Andrea Mayr vorne dabei. Der FURCHE erzählte die Medizinerin und Gewinnerin des Wien-Marathons 2009, was sie treibt.

Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Und Andrea Mayr erst recht. Wenn andere gerade erst dem Bett entstiegen sind, hat sie schon 15 Kilometer hinter sich gebracht. Jeden Tag, bei jedem Wetter springt sie direkt nach dem Weckerläuten kurz vor sechs Uhr in die Laufschuhe, fährt mit dem Auto zu ihrer Arbeitsstätte ins Wiener Heeresspital, läuft von dort aus auf den Bisamberg und wieder zurück, duscht sich, putzt sich die Zähne und beginnt pünktlich um Viertel vor acht ihren Turnus. Erst nach der Arbeit, um drei Uhr nachmittags, kommt sie erstmals dazu, etwas zu essen. Eine ernährungstechnische Unart, die sie sich schleunigst abgewöhnen will. Denn schon zwei oder drei Stunden später ist die zweite tägliche Trainingseinheit fällig: Mehr als 20 Kilometer bewältigt sie darin – einlaufen, dreimal Wechseltempo, auslaufen. Spätestens um 22 Uhr macht Andrea Mayr dann das Licht aus. Nur so schafft sie es, auch den kommenden Tag zu überstehen.

Zufällig von Sieg zu Sieg

Warum macht sie das? Warum tut sie sich das an? „Der Hauptantrieb ist vermutlich nur Selbstbefriedigung“, sagt die 30-Jährige nach dem Abendtraining mit halbnassen Haaren und bloßen Füßen in der Wohnung ihres Freundes in Wien-Brigittenau. „Für Geld mache ich es nicht, auch nicht für andere Leute, und definitiv nicht dafür, in der Zeitung zu stehen. Es geht nur um die Freude, wenn man etwas geschafft hat.“

Obwohl: Der Erfolg ist schon auch mit im Spiel. Wenn all diese zufälligen Siege nicht gewesen wären, dann wäre diese 1,75 Meter große, 53 Kilo leichte und unglaublich zähe junge Frau heute nicht dort, wo sie ist.

Heute hält die gebürtige Welserin den österreichischen Landesrekord der Frauen in der Marathondistanz: Am 19. April 2009 gab sie beim Vienna City Marathon ihr Debüt über die 42,195 Kilometer – und lief mit einer Fabelzeit von 2:30:34 allen afrikanischen Favoritinnen auf und davon. Für noch größere Verblüffung sorgten freilich die körperlichen Handicaps, trotz derer Andrea Mayr an den Start gegangen war: Knochenmarksödem mit Stressfraktur im Schienbein, gerissene Sehne, verletzte Achillessehne. „Ich selbst hätte wohl jedem Patienten abgeraten, in diesem Zustand an den Start zu gehen,“ meint die Medizinerin. Doch sie selbst wagte es. Zu intensiv hatte sie sich vorbereitet, zu groß war die Hoffnung, ihre Läuferinnenkarriere nach der verpatzten Qualifikation für die Olympischen Spiele in Peking 2008 doch noch mit einem Erfolg zu krönen. „Außerdem ist bis zu dem Zeitpunkt, als ich die Diagnose bekommen habe, alles sehr gut gelaufen“, erinnert sich Mayr. „Ich habe gewusst, es liegt nicht am Fuß, sondern nur am Kopf, dass ich plötzlich nicht mehr laufen kann.“ Und nachdem eine Operation ohnehin unausweichlich war, ging Mayr an den Start und lief und lief und lief. Nur die letzten drei Kilometer verlangten ihr alles ab. „Aber was sind schon diese zehn Minuten gegen den euphorischen Zustand danach?“, erklärt die Athletin. „Ich glaube, ich war zwei Wochen lang high.“

Woher ihre Zähigkeit kommt, weiß sie selbst nicht so genau. Vielleicht ist es mit ihren sportbegeisterten Eltern zu erklären, die sie – kaum, dass sie gehen konnte – mit zum Bergsteigen und Laufen nahmen. Mit 15 hatte sie ihren ersten Trainingsplan – und nach der Matura am Linzer Ramsauer-Gymnasium die Herausforderung, in Wien Medizin-Studium und Laufen unter einen Hut zu bringen. Es ging – und zwar besser als erwartet: Mayr absolvierte das Studium in Mindestzeit und gewann Bewerb um Bewerb. Sie wurde wiederholt Staatsmeisterin im Berg- und Crosslauf, Siegerin beim Empire State Building Run und schnellste Frau beim Taipeh 101 Run-up-Race auf das höchste Gebäude der Welt. Auch auf dem Rad sorgte sie für Furore – als Österreichische Meisterin im Bergfahren wie auch bei der Duathlon WM 2004.

„Da war ein großer Schutzengel dabei“

Ihre Ausdauer erstaunt sogar ihren Trainer, der ihr immer härtere Programme auferlegt. „Viele sagen über mich, dass ich einfach keinen Schmerz spüre und es deshalb leichter habe“, erzählt die Athletin und streicht sich ihre halbnassen Haare aus der Stirn. „Ich selbst kann schwer beurteilen, was die anderen spüren. Aber es kann schon sein, dass ich etwas härter zu mir selber bin.“ Selbst zahllose Unfälle mit dem Rad und ein Rendezvous mit einem Lkw, der ihren Unterschenkel überrollte, hat sie ohne größere Schäden überstanden. „Da war sicher ein großer Schutzengel dabei“, erinnert sich Mayr. Ein Freund hat dieses Glück etwas süffisanter auf den Punkt gebracht: „Gott sei Dank bist du keine Katze, denn die haben nur sieben Leben.“

So viele Erfolge Andrea Mayr in ihrem einen Leben bisher sammeln konnte: Den großen Sinn sucht sie im Laufen nicht. „Als ich nach dem Studium zwei Jahre lang nur Läuferin war, habe ich mir schon oft die Sinnfrage gestellt“, gesteht die Sportlerin. „Es hat ja keiner etwas davon, wenn ich laufe. Es hat auch keiner etwas davon, wenn ich fünf Minuten schneller laufe. Es ist nur egoistisch.“ Deshalb gehe auch „Doping völlig am Sinn vorbei. Denn das ist ja reiner Selbstbetrug.“ Sinnfutter für die Seele erhofft sie sich eher von ihrer Tätigkeit als Ärztin, auf die sie sich nach ihrer Laufkarriere konzentrieren will. Oder vom Gründen einer Familie. „Aber das Laufen gibt mir eben Zufriedenheit. So ein kleiner Dauerlauf von Gmunden über den Grünberg zum Laudachsee, das ist schon nett.“

Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Und Andrea Mayr erst recht.

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