Ein Inselchen im Meer der Menschenrechte

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Die russische Menschenrechtsgesellschaft "Memorial" ringt ums Überleben. Nicht nur ihr kritischer Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit ist der politischen Führung in Moskau ein Dorn im Auge. Aktivisten werden diffamiert, Täter geehrt und Opfer verschwiegen.

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Die russische Menschenrechtsgesellschaft "Memorial" ringt ums Überleben. Nicht nur ihr kritischer Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit ist der politischen Führung in Moskau ein Dorn im Auge. Aktivisten werden diffamiert, Täter geehrt und Opfer verschwiegen.

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Nein, nein", von der Angst soll man laut Irina Scherbakowa von "Memorial International" im Zusammenhang mit Menschenrechtsaktivisten in Russland nicht sprechen, "denn die wissen ja, was sie tun". Unermüdlich, mit außergewöhnlicher Energie und besonderem Engagement setzen sie sich für das Recht auf ein friedliches, freies und versöhnliches Leben ein.Und auch für die diskursive Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit, die in der Gesellschaft wie ein lästiger Wurmfortsatz hinter sich hergezogen wird und die Generationen krank macht. Einfach wegoperieren und vergessen kommt für die Mitglieder und MitarbeiterInnen von "Memorial" nicht in Frage.

Mahnmale der Zeit

Es gibt kleinere öffentliche Initiativen in ganz Russland wie hauseigene Museen, Filmabende, Täfelchen an Häuserwänden, die an die aus ihren Häusern verschleppten Männer und Frauen erinnern, aber auch Ausstellungen oder größere und weitreichendere Projekte wie das "Virtuelle Gulagmuseum", auf Initiative des Wissenschaftsund Forschungszentrum "Memorial" in Sankt Petersburg entstanden. Die Vergangenheit und das Schicksal der Großmütter und Großväter zu verdrängen, wäre gleichbedeutend mit einem fehlenden Stück in der eigenen Geschichte. Gemeinsam die Erinnerung an diese Menschen am Leben zu erhalten und Mitgefühl für deren willkürlich erlittenes Schicksal zu zeigen, sind die großen Aufgaben von "Memorial". Es war der Wunsch Betroffener und Angehöriger Ermordeter und Verschleppter, die schrecklichen und menschenverachtenden Verbrechen aufzuarbeiten, was 1989 zur Gründung der Menschenrechtsgesellschaft in Moskau führte.

Heute wirkt sie in ganz Russland, Kasachstan, in der Ukraine, in Deutschland, Frankreich, Italien und seit kurzem auch in Österreich. Sie alle wollen als Mahnmal der Zeit verstanden werden, als ganze Familien für immer entzweit wurden, Menschen spurlos verschwanden und Verrat und Mord an der Tagesordnung standen. Mittels regelrechter Massenoperationen gegen Gruppen, vorwiegend "einfache" Leute, wie Kulaken, aber auch gegen Mitglieder des Klerus und andere "Volksfeinde" richtete sich der Schrecken. Ihr größtes Ausmaß erreichte die Terrorwelle 1937 in Moskau, im damaligen Leningrad und anderen Großstädten der Sowjetunion, als rund zwei Millionen Menschen verhaftet wurden, in Schauprozessen verurteilt, 700 000 Menschen ermordet und beinahe 1,4 Millionen Männer und Frauen in Lagern und Arbeitskolonien der Gulags deportiert wurden.

Noch immer Schweigen

Offen über das erlittene Schicksal zu sprechen, das meist mit Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und Resignation verbunden ist, bleibt für viele ein unerfüllter Traum. Oft ist die Angst vor der Rückkehr des Terrors zu groß, die Erinnerung an die schreckliche Zeit zu erdrückend. Wer einen Gulag-Überlebenden treffen darf, wie es "Memorial" im Rahmen verschiedener Programme auch jungen Menschen aus aller Welt ermöglicht, der ist selbst möglicherweise für sein Leben geprägt und beginnt sich nicht selten in der Gesellschaft zu engagieren. Mahnend, streng kommen die Worte aus dem Mund dieser starken Männer und Frauen, die Dankbarkeit für das Interesse am eigenen Schicksal ist oft spürbar. Dann werden Fotos gezeigt, Gedichte vorgetragen, Erinnerungen lebendig gemacht, die kein Geschichtsbuch so gut wiedergeben könnte.

Beschneidend und beengend bleibt der Umgang mit der Vergangenheit in der russischen Gesellschaft, nicht zuletzt auch jener, der international ausgezeichneten Organisation, die immer wieder um ihr Bestehen ringt. So sorgt das 2012 in Kraft getretene "Gesetz über ausländische Agenten" für Sorge unter den Menschenrechtsaktivisten. Dieses sieht vor, dass sich NGOs in Russland, die in der Gesellschaft politisch wirken und ausländische Förderungen erhalten, sich als "ausländische Agenten" registrieren müssen. "Besonders markant ist die Bezeichnung 'ausländischer Agent', die in den Köpfen von Menschen nur eine Assoziation mit der Stalinzeit hervorrufen kann, wo Hunderttausende unschuldige Menschen als 'ausländische Agenten' bezeichnet und viele zu Todesstrafen verurteilt wurden. In diesem Sinne ist es nicht nur ein Signal, das ist eine deutliche Drohung", so die Moskauer Historikerin Scherbakowa, die für ihr Engagement mittlerweile über die Grenzen Russlands bekannt ist. "Dazu gehören auch die Diffamierung in manchen propagandistischen Fernsehprogrammen und anderen Massenmedien, das Beschmieren der Hauswände des Moskauer Memorials, die Einschüchterung von Lehrern und Aktivisten in den Regionen, damit sie an unseren Bildungsprojekten nicht partizipieren und vieles andere mehr."

Ein besonders krasses Beispiel für die radikalen Veränderungen in letzter Zeit ist die Verstaatlichung des Museums Perm-36 im russischen Perm, in dem Dissidenten ihre Haftstrafen unter sehr schlimmen Bedingungen absaßen. Die einzige erhaltene Lagerstätte visualisiert das Leben im Gulag wie keine andere. So würde es laut der Moskauer Menschenrechtlerin in etwas Kontroverses verwandelt werden, "nämlich in einen Ort, der nicht die Opfer, sondern die Täter ehrt. Das ist eindeutig ein Zeichen dafür, dass man die Erinnerung auslöschen will." Und dann? Wer hört sie dann, die verstummten Stimmen der abertausend ermordeten Männer, Frauen und Kinder? Es wirkt beängstigend, erst recht, wenn man dazu die aktuellen Geschehnisse in Russland beobachtet. Gut, dass sie keine Angst haben und wissen, was sie tun.

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