Ein Kind erinnert sich

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Vertreibung 1944, Vertreibung 1999, oder: Der Wiederholungszwang der Unmenschlichkeit.

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Vertreibung 1944, Vertreibung 1999, oder: Der Wiederholungszwang der Unmenschlichkeit.

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Am Haustor hört man schwere Schritte und laute Stimmen. Es sind die Stimmen fremder Männer, die unsere Räume betreten. Ich flüchte zur Mutter. Die Männer sagen zu ihr, sie müsse in zehn Minuten gepackt haben. Die Mutter läuft von einem Raum in den andern. Die Kästen werden aufgerissen, Wäsche und Bücher liegen auf dem Boden. Die Mutter schreit, ich solle die Bücher lassen und nur Lebensmittel in einen Sack füllen.Wir werden auf die Straße getrieben.Wir gehen in einer Kolonne, Mischi und ich nebeneinander, vor uns Helen mit ihrem kleinen Bruder auf dem Rücken, hinter uns meine Mutter mit Alfred, daneben Mischis Mutter. Sehr lang ist die Kolonne, die aus Frauen und Kindern besteht ..."

Kosovo 1999? Es könnte auch in Pristina oder Urosevac, Prizren oder Kacanik, es könnte in diesen Monaten gewesen sein, aber die Schilderung bezieht sich auf Werschetz im jugoslawischen Banat im Herbst 1944. Auf die Vertreibung der Donauschwaben aus ihrer Heimat, in der sie zwei Jahrhunderte lang mit Serben, Ungarn, Rumänen zusammengelebt hatten.

Die im Kopf des Lesers entstehende Parallelität der historischen Ereignisse, der Vertreibung der Deutschen damals, der Kosovaren heute, etlicher anderer Vertreibungen im auseinanderbrechenden Jugoslawien dazwischen, gibt dem Buch "Von Ikonen und Ratten - Eine Banater Kindheit" von Robert Hammerstiel eine beklemmende Aktualität. Hammerstiel wurde 1933 in Werschetz, Serbien, geboren, kam als Zwölfjähriger in ein serbisches Lager und 1947 als Flüchtling, "Volksdeutscher", wie es damals hieß, nach Österreich. Er brachte es hier als Künstler zu Ansehen, ist mehrfacher Preisträger, Autor etlicher Bücher und lebt in Ternitz, Niederösterreich.

"In die Fliegerhallen hineingetrieben, setzen oder legen wir uns auf den Boden, und die Halle füllt sich mit Menschen ... Es gibt viele Menschen, die keine Lebensmittel besitzen, da sie keine Gelegenheit hatten, etwas mitzunehmen, weder Brot noch Decken oder Mäntel, und die Nächte im November sind sehr kalt. Die Halle ist dunkel, und es wird Nacht. Alle Menschen liegen oder kauern auf dem Boden, nur der Esel steht und läßt den Kopf hängen. Er schreit, und dieses Schreien zusammen mit dem Schreien der Kinder und dem Beten der alten Frauen bildet einen merkwürdigen Chor."

Der erwachsene Robert Hammerstiel holt zwischen 1954 und 1961 diese Wochen und Jahre aus der Verdrängung heraus und zeichnet sie so auf, wie er sie einst erlebt und noch in Erinnerung hat. Als Zwölfjähriger, dessen Erinnerungen an die Kindheit auf die väterliche Backstube beschränkt sind, aus der er mit seinem Freund Mischi das frische Brot zu den Kunden trug, auf die Spiele mit Schulkameraden, die Obsorge der Mutter. Für den Zwölfjährigen ist der Krieg nur die Tatsache, daß der Vater seit drei Jahren nicht mehr zu Hause war. Er weiß nicht, daß die Serben, die siegreichen Titopartisanen, nun Rache nehmen wollen für das, was ihnen in den Jahren vorher angetan worden ist.

"Die Tür wird aufgerissen, und es sind Uniformierte, diejenigen, die auf ihren Gewehren Dolche stecken haben, die sie in die Decke der Futterkammer bohren. Wir stehen neben Helen und bewegen uns nicht. Auch sie steht bewegungslos, die offenen Haare über den Schultern. Eine Stimme durchschneidet den Raum: ,Weifert Jelena, das bist du, mach dich fertig, du gehst mit uns, beeil dich!' Ich sehe, wie sie krampfhaft die Tränen zurückhält. Mein Leben lang werde ich dieses Gesicht nicht vergessen."

Er hat nur gerüchteweise mitbekommen, daß Hunderte deutsche Männer erschossen worden sind. Aber er erlebt mit, wie die jungen Frauen herausgeholt werden, um in Rußland Zwangsarbeit zu leisten. Wie die Mütter von den Kindern getrennt werden, um auf den Feldern zu arbeiten - und wie die Rückkehr der Mutter gerade am Heiligen Abend zum Wunder der Weihnachtsnacht für sie wird. Er erlebt mit, wie entfernte Bekannte aus früherer Zeit für ihn und seinen kleinen Bruder sorgen bis zur totalen Erschöpfung, solange die Mutter nicht wieder aufgetaucht ist.

Das Niederschreiben dieser Erinnerungen war einst ein Akt der Selbsttherapie. Das Erscheinen des Buches gerade jetzt gibt ihm moralisches Gewicht, Stellenwert, mag Menschen, deren Eltern oder Großeltern zu Opfern der damaligen Vertreibung wurden, helfen, sich in die Situation der heutigen Vertriebenen zu versetzen. Der Unterschied: Den heutigen Vertriebenen kann man helfen - als einzelner, wenn man will, als humanitäre Organisation, wenn genügend einzelne wollen, sprich spenden, als Staat, indem man soviele Flüchtlinge wie möglich aufnimmt. Ein weiterer Unterschied: Die heutigen Serben haben ganz gewiß keinen Grund, sich an den Kosovaren zu rächen.

Gute und Böse "Der Boden der Hutweide ist naß, und das Gras ist zusammengetreten ... Die meisten Leute stehen, statt sich niederzulassen. Nur die zu Tode erschöpften werfen sich nieder. Wir hören Uniformierte schreien, die Leute sollen ihren Schmuck abgeben. Wer bei der bevorstehenden Leibesvisitation Schmuck bei sich habe, werde erschossen -" Drei Jahre lang sind Männer nur "Uniformierte" - jene, die die Mütter schlagen, aber auch solche, die den Kindern über die Haare streichen, die zulassen, was eigentlich verboten ist. Es gibt "gute" und "böse" Uniformierte.

"Der Uniformierte streckt aus der Dunkelheit seine Hand zum Kopf des Mädchens und fährt ihm langsam über das Haar. Es ist eine behaarte Hand, und es scheint mir, als zittere sie. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen. Seine Stimme kommt aus der Finsternis und spricht, es werde alles gut, wir sollten nicht traurig sein, wir würden zu unsern Müttern gebracht."

Aber es gibt auch Uniformierte, die auf die Kinder schießen, wenn sie außerhalb des Lagerzaunes Gras oder Klee rupfen, aus denen die Mutter Spinat kochen soll. So verliert Robert nach Mischi, der mit Mutter und Bruder in ein anderes Lager verbracht wird, auch seinen neuen Freund Jani, dem der Posten mit einem Dumdum-Geschoß das Gesicht zerfetzt. Wie sich die Bilder gleichen ...

Viele verhungerten "Bäume, Kirschbäume mit roten Kirschen, ziehen an unserm Waggon vorbei. Alle drängen zum Wagenfenster und heben die Kinder in die Höhe, damit sie hinaussehen und Bekannte finden können. Die Kinder weinen, nicht, weil sie hier in Rudolfsgnad Angehörige haben und nicht aussteigen dürfen, sondern weil sie Hunger haben. Eine Mutter klagt: "Alle habe ich hier und darf sie nicht sehen." Ich weiß, daß Mischi und seine Mutter hier verhungert sind, aber ich kann vor Hunger nicht richtig denken ..."

Drei Jahre lang, von einem Lager ins nächste, Molidorf, Betschkerek, Rudolfsgnad - Orte, die auf keiner Karte mehr zu finden sind, weil sie längst umbenannt wurden. Nur, um ihnen serbische Namen zu geben, um verdiente Märtyrer des Partisanenkriegs zu ehren - oder auch um vergessen zu machen, was dort geschehen ist? Um vergessen zu machen, daß in diesen Lagern Tausende Großmütter verhungerten, Tausende Mütter und Kinder an Ruhr, Typhus, Malaria gestorben sind?

"Wenige Tage später quält mich ein unerträgliches Jucken, und meine Arme sind über und über mit Krätze bedeckt ... Es ist eine unsagbare Qual, und ich beiße die Zähne zusammen. Aber trotzdem breche ich oft in Weinkrämpfe aus ... Meine Mutter sitzt neben uns und schaut uns gequält an. Sie weint nicht, aber ihre Lippen bewegen sich, und ihre Augen sind rot ..."

Als die Krätze im Frühjahr überstanden ist, kommt die Malaria - jeden dritten Tag ein Anfall. "Wundermittel" sollen helfen - der Urin noch nicht befallener Leidensgenossen oder fette Spinnen, mit Wasser getrunken. Echte Hilfe bringen erst die "gelben Tabletten", Atebrin, das im Krieg auch den deutschen Soldaten verabreicht worden ist.

"Die Frau erzählt weiter, daß auch die Weiferts, Mutter und zwei Buben, nach Rudolfsgnad gekommen seien und die Mutter mit ihrem älteren Sohn ebenfalls verhungert sei. ",Ich glaube, er hieß Mischi ...', sagt sie mit weinerlicher Stimme ...' ,Er hieß Mischi!' höre ich fortwährend. ,Er hieß', nicht: ,Er heißt' und ,verhungert, verhungert ...' höre ich die Menschen hier an der Küche raunen. Ich kann nicht weinen. Ich glaube ersticken zu müssen ..." Daß auch Mischis große Schwester Helen inzwischen in Rußland an einer Blutvergiftung gestorben ist, erfährt er erst später.

Sommer 1947. Robert, inzwischen 14 Jahre alt, ist mit Mutter und Bruder in Gakovo in der Batschka. Von hier aus ist es nicht weit bis an die ungarische Grenze. Immer wieder brechen Frauen mit ihren Kindern aus dem Lager aus und fliehen hinüber. Weiß das Regime nicht mehr, was es mit dem ausgebrannten Rest der Deutschen anfangen soll?

"Was wird morgen nacht geschehen? Werden uns die Posten nicht bemerken? Werden wir im Mais verschwinden können? Seit einem Jahr komme ich mir fremd vor, als bestünde ich aus zwei verschiedenen Personen, aus dem Kind vom November 1944 und aus dem unbegreiflichen Wesen von heute, an dem ich glaube, ersticken zu müssen ... Bin ich noch ein Kind? Nein, sie ist vorbei, meine Kindheit. Jetzt kommt etwas Neues, vor dem ich mich sehr fürchte."

"Sprechen Sie weiter!"

Die Flucht gelingt. Aber wohin weiter? Die Mutter meint: "Nur weg - dorthin, wo unsere Sprache gesprochen wird!" In Ungarn verkaufen sie letzte Andenken und betteln, um das Fahrgeld bis zur österreichischen Grenze zusammen zu bekommen. Aber sie treffen auch auf Menschen, die ihnen weiterhelfen, wenn es scheinbar gar nicht mehr geht.

"Wir gehen weiter, werden durch einen Graben geführt und kommen wieder auf eine Lichtung ... Ich höre Männerstimmnen, und wir umringen die männlichen Gestalten, die Uniform tragen und unsere Muttersprache sprechen. Eine Frau fällt dem Grenzer um den Hals und weint. Sie ruft "Sprechen sie weiter, bitte, wir haben schon jahrelang kein deutsches Wort von Männern gehört."

Das Trauma blieb Sie sind in Österreich, aber es dauert noch lange, bis sie hier Wurzeln fassen können. Dem Bauern in Niederösterreich sind sie billige Arbeitskräfte, in Wien Arbeit und Wohnung zu finden, ist unmöglich. Besser wird es erst in einem Gasthaus im Marchfeld, auch dort noch als billige Hilfskräfte, dann endlich, als Robert als Bäckerlehrling das Brot austragen kann, wie einst beim Vater in Werschetz. "Du bist sechzehn und wirst erwachsen," sagt die Mutter. "Gehe hin und lerne, denn das Leben ist hart."

Robert Hammerstiel blieb nicht beim Brotbacken. Schon der Vater hatte einst in seiner Freizeit Ikonen der orthodoxen Serben restauriert, von ihm erhielt Robert ersten Zeichenunterricht. Studien bei Gerda Matejka-Felden und Robert Schmitt, Gerhard und August Swoboda öffneten den Weg zum Künstlerberuf, der den Maler und Holzschneider international bekannt machte. Aber vier Jahrzehnte künstlerischen Schaffens stehen unter dem Trauma der drei Jahre, die er als Kind in serbischen Lagern verbringen mußte: Menschen ohne Gesichter, Frauen mit Kopftüchern. Sie waren es, die ihn überleben ließen - Männer nur in Uniform, mit dem "Dolch" auf dem Gewehr. Es dauert Jahre, bis er von ihnen loskommt, und sie tauchen auch später immer wieder auf. 40 Jahre vergehen, bis der 66jährige Robert Hammerstiel die Erinnerungen des Zwölf- und Fünfzehnjährigen der Nachwelt übergeben kann. Sie sind heute so aktuell wie einst.

Von Ikonen und Ratten. Eine Banater Kindheit 1939-1949. Von Robert Hammerstiel, mit 32 Zeichnungen des Autors. Verlag Brandstätter, Wien 1999. 333 Seiten, geb., öS 349,- e 25,36

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