Ein kurzer Weg, aber ein großer Sprung

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Die Alte Pinakothek hat ihre Pforten wieder geöffnet, und das Haus der Kunst zeigt ein mittelalterliches Hausbuch und Lothar-Günther Buchheims Expressionisten-Sammlung .

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Die Alte Pinakothek hat ihre Pforten wieder geöffnet, und das Haus der Kunst zeigt ein mittelalterliches Hausbuch und Lothar-Günther Buchheims Expressionisten-Sammlung .

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München bietet seinem verwöhnten Publikum in diesen Monaten Gelegenheit zu ganz besonderen Kunstgenüssen. So ist seit kurzem die "große alte Dame", die Alte Pinakothek, nach vierjähriger, äußerst aufwendiger Sanierung wieder geöffnet. Wer die vertrauten Säle durchwandert, kann erleichtert feststellen, daß unter der Leitung des scheidenden Generaldirektors, Johann Georg Prinz von Hohenzollern, die Noblesse dieses Museums - auch mit all seinen Kriegsnarben - unangetastet geblieben ist. Dem Auge des Besuchers verborgen bleiben die auf den modernsten Stand gebrachte technische Ausstattung wie computergesteuerter Lichteinfall und Klimaanlage über Videoüberwachung bis hin zu baulich notwendig gewordenen Renovierungen. Eine der großartigsten Gemäldesammlungen der Welt präsentiert sich in weitgehend alter Hängung auf Samt- beziehungsweise Seidenbespannung, jeweils nach Schulen in unterschiedlich gedämpften, gebrochenen Farbtönen. Der Charakter der klassischen Gemäldegalerie ist beibehalten, in der allein die Sammlung ihrer Werke im Vordergrund steht.

Von der altdeutschen Schule etwa sollte man hinübergehen ins Haus der Kunst, das vorübergehend eine Kostbarkeit spätmittelalterlicher Zeichenkunst par excellence präsentiert. Dank der Faksimile-Herstellung des berühmten Hausbuches aus dem Besitz der Fürsten zu Waldburg Wolfegg bietet sich die einmalige Gelegenheit, eine Bilderwelt im Original (durch die Lupe!) zu studieren, die nicht nur in ihren künstlerischen Aussagen und einer zum Teil hervorragenden Zeichentechnik besticht, sondern auch durch die Dokumentation der Lebenswelt und des Gedankenguts des späten 15. Jahrhunderts. Aus ganzheitlicher Sicht von Mensch und Kosmos spannt sich der Bogen von den Planetenbildern über Szenen ritterlichen Lebens zu Hausmitteln, zu Bergwerk und Verhüttungstechnik bis hin zum Kriegswerkzeug. Hoch zu Roß schweben die Planeten über den von ihnen beeinflußten Kindern. Im Badehaus und in der Wasserburg, bei Turnier, auf der "Hoch-" und "Niederwildjagd" wie im "Obszönen Liebesgarten" wird höfischer Zeitvertreib mit Witz und Augenzwinkern geschildert. So werden beim "Fensterln" für den Eroberungskampf bestimmte Leitern und Seile eingesetzt.

Albrecht Dürer hat sich nachweislich mit Werken des sogenannten Hausbuch-Meisters beschäftigt, der am Mittelrhein tätig war und dem neben den qualitätvollsten Zeichnungen im Hausbuch etwa 90 Kaltnadel-Radierungen zugeschrieben werden. Leihgaben, unter anderm aus dem umfangreichsten Bestand im Rijkspreentenkabinett in Amsterdam, ermöglichen direkte Vergleiche. In den eindrucksvollen Blättern "Der Jüngling und der Tod" (Wien) beziehungsweise "Die drei lebenden und die drei toten Könige" (Stuttgart) sind die Gegensätze von Leben und Vergänglichkeit drastisch vor Augen geführt. Das Wissen um Leid und Grauen prägt hier, zutiefst anrührend, das verhärmte, menschliche Antlitz des Todes.

Von diesen Blättern ist es ein großer Zeitsprung, aber ein kurzer Fußweg zu den erschütternden Radierungen aus der Serie "Der Krieg" (1924) von Otto Dix; von den spätmittelalterlichen Damen zu Dix' Frauen aus einer anderen schillernden Welt und zu Max Beckmanns Gestalten in "Die Nacht" (1912) oder "Prost Neujahr" (1917).

Diese sind Teil jener berühmten Sammlung, die sich mit 756 Exponatenüber nahezu alle Säle im Haus der Kunst erstreckt. Der Maler, Romanautor ("Das Boot") und Verleger Lothar-Günther Buchheim hat sie seit den fünfziger Jahren - damals gegen den Geschmack der Zeit - zusammengetragen und mit seinen Publikationen zur Künstlergemeinschaft "Die Brücke" (1956), zur Graphik des deutschen Expressionismus (1959), über Max Beckmann (1959) und Otto Müller (1963) echte Pionierarbeit geleistet. Seine große Liebe galt den Dresdner "Brücke"-Künstlern, die den Schwerpunkt bilden. Zum einen war deren Beschäftigung mit Holzschnitt und Lithographie stark ausgeprägt, damit auch leichter nach dem Kriege zu erwerben, zum anderen fühlte sich Buchheim von den mehr impulsiv arbeitenden Künstlern wohl unmittelbarer angesprochen als von den tüchtigen Theoretikern des Blauen Reiter um Kandinsky und Marc. Liest man Buchheims Texte, so erschließen sich die Werke ganz mit den Augen des Malers, voll Verve und doch feinem Gespür für die jeweils künstlerischen wie auch handwerklichen Mittel.

Fulminante Werke wie Lovis Corinths später "Tanzender Derwisch", der sich gröhlend und wie im Rausch zu drehen scheint, Erich Heckels "Schlafender Pechstein" (1910), Ernst Ludwig Kirchners riesige "Berglandschaft" (1920) gehören ebenso dazu wie etwa Otto Müllers Farblithographien der "Zigeunermappe" (1927), Karl Schmidt-Rottluffs von kantigen Linien geprägten Holzschnitte. Die überwältigende Fülle und der künstlerische Reichtum dieser Sammlung, unter anderm mit einer Vielzahl von Künstlerbüchern, wird in Bernried am Starnberger See in einem "Museum der Phantasie" ihren Platz finden, in diesem Umfang jedoch nicht ständig gezeigt werden. Beide Ausstellungen sind eine Reise wert.

Alte Pinakothek Barerstr. 27.

Dienstag, Mittwoch, Freitag bis Sonntag 10 bis17 Uhr, Donnerstag 10 bis 20 Uhr Haus der Kunst Prinzregentenstraße 1.

Bis 18. 10. Dienstag bis Freitag 10 bis 22 Uhr, Samstag bis Montag 10 bis 18 Uhr.

Venus und Mars.

Das mittelalterliche Hausbuch.

Bis 11. 10.

Expressionisten.

Sammlung Buchheim.

Bis 18. 10.

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