"Ein längerfristiger Weg“

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Über aktuelle Debatten bei der Verankerung von Achtsamkeit im therapeutischen Umfeld sprach die FURCHE mit Andreas Remmel, ärztlicher und klinischer Direktor des Psychosomatischen Zentrums Waldviertel, an dem seit 2006 achtsamkeitsbasierte Therapien erforscht und eingesetzt werden.

Die Furche: Achtsamkeit in der Medizin wurde einmal sehr plakativ als "Buddhismus auf Krankenschein“ bezeichnet. Ist dies zutreffend?

Andreas Remmel: Nein. "Achtsamkeit“ ist auch außerhalb des Buddhismus als "Bewusstseinsforschung“ gut verständlich. In einer abendländischen Ideengeschichte kommt eine phänomenologische und existenzphilosophische Position diesem Verständnis am nächsten. Bei Achtsamkeit geht es darum, die Phänomene hinter den Phänomenen zu verstehen, zu verstehen, wie unser Geist und unser Bewusstsein funktionieren. Bei einem tieferen Verständnis erkennen wir auch, wie wir mit allem Lebendigen und Kreativen, eben mit der Realität, verbunden sind.

Die Furche: Können durch den verstärkten Einsatz achtsamkeitsbasierter Verfahren in der klinischen Praxis Psychopharmaka zum Teil ersetzt werden?

Remmel: Viele Studien konnten zeigen, dass Psychotherapie zu vergleichbaren Symptomreduktionen führt wie Psychopharmaka, dass erstere oder die Kombination beider Interventionen aber oft nachhaltiger sind. Dabei sind aber zwei Aspekte besonders wichtig: Erstens handelt es sich bei "Achtsamkeit“ um kein psychotherapeutisches Verfahren im engeren Sinne, sondern um eine grundlegende Haltung und Einstellung. Und zweitens gilt die Vergleichbarkeit von Psychotherapie und Psychopharmaka primär für leicht- bis mittelgradige psychische Krankheitsepisoden. Bei schwergradigen Beeinträchtigungen sind Medikamente oft unverzichtbar, um Menschen wieder zu stabilisieren und ihre Ich-Funktionen wiederherzustellen. Es wäre unverantwortlich und ein Kunstfehler, Menschen in diesen Fällen eine medikamentöse Therapie vorzuenthalten.

Die Furche: Gibt es Risken für mögliche Missverständnisse der Achtsamkeit?

Remmel: Der aktuelle "Hype“ um Achtsamkeit sollte nicht vergessen lassen, dass es sich hier um einen Erkenntnisprozess unseres Bewusstseins und der Grundlagen unserer Existenz handelt, der in der Regel mit langjähriger Praxis und Beschäftigung verbunden ist. "Schnellsiederkurse“ und "Achtsamkeitszertifikate“ garantierten ein solches tieferes Verständnis in der Regel nicht. Achtsamkeit "auf die Schnelle“ garantiert auch keine Stressreduktion und ist kein Allheilmittel gegen "Burnout“. Achtsamkeit ist vielmehr ein längerfristiger, auch anstrengender Weg, eigene Erlebnis- und Verhaltensmuster besser verstehen und ggf. ändern zu können. Zudem setzt Achtsamkeitspraxis eine gewisse seelische Stabilität voraus. Klinische Einrichtungen überprüfen dies gemeinsam mit den Interessierten. (mt)

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