Ein Nest für Vogel und Fisch

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Richard Powers krümmt die Zeit, verwortet Musik und stellt die Frage nach einem Leben jenseits von Schwarz und Weiß: in seinem monumentalen Roman "Der Klang der Zeit".

Physik und Musik strukturieren wie in Richards Powers' bisherigen (allerdings hierzulande nicht so bekannten) Romanen auch sein jüngstes Werk "Der Klang der Zeit" und geben ihm inhaltliche Impulse bis zur letzten Zeile. Verschiedene Ebenen und Zeiten, Fiktionales, Fakten und Theorien werden zu einer Geschichte verwoben. Da geht es um den Rassismus im Amerika des 20. Jahrhunderts, um Musik und Klang, um Zeit und nichts Geringeres als die Richtung des Universums. Und um die Geschichte einer Familie, begründet von einem jüdischen Einwanderer und einer schwarzen Sängerin. Um Amerika also. Nicht wenig, was es da zu erzählen, vor allem aber kunstvoll so zu verknüpfen gilt, dass Relativitätstheorie zu klingen beginnt und Töne sich zu Worten formen.

Der zeitliche Bogen spannt sich zwischen zwei historischen Daten, reicht vom Open Air Konzert von Marian Anderson 1939 bis zum "Million Men March", organisiert vom schwarzen Nationalisten Louis Farrakhan am 16. Oktober 1995, der Frauen von der Teilnahme ausschloss. Powers erzählt aber sowohl die historischen Daten als auch die fiktionale Geschichte nicht chronologisch, sondern als Endlosschleife, lässt am Ende, das wiederum Anfang ist, fast magisch das Kind erscheinen, das erst noch geboren werden muss. In der Literatur ist eben auch das möglich: die Krümmung der Zeit.

Dreh- und Angelpunkt der erzählten Familiengeschichte ist das historische Konzert der gefeierten Sängerin Marian Andersen, der in den USA als Schwarzer die Konzertsäle verwehrt wurden und die ein Open Air Konzert in Washington sang, vor Tausenden von Zuhörern. Hier beginnt die Liebesgeschichte zwischen David Strom und Delia Daley, die bald darauf heiraten, eine Geschichte, der nicht viel Glück beschieden sein kann in Zeiten, in denen man sich als gemischtes Paar kaum auf die Straßen trauen darf. Denn Delia ist eine schwarze Arzttochter und der Physiker David jüdischer Emigrant. Fremder könnte ihre Herkunft nicht sein, und doch verbindet sie gerade diese, vor allem aber die Liebe zur Musik. Musik wird denn auch zur rettenden und der Realität trotzenden Insel. Die Eltern wollen ihren drei Kindern die Antwort auf die Frage, ja die Frage selbst - schwarz oder weiß - ersparen und, als sie doch gestellt wird, gegen die Realität beantworten: "Ihr macht eine eigene Rasse auf." Von den Schwierigkeiten, das zu leben, erzählt Ich-Erzähler Joey. Joey ist der mittlere der drei Geschwister und in der Mitte steht auch sein Versuch, mit seiner Mischfarbe umzugehen. Zunächst steht er dem sowohl von der Hautfarbe als auch von der Einstellung eher weißen Bruder, dem Sänger Jonah, als Klavierbegleiter zur Seite, dann aber hilft er seiner Schwester Ruth eine Schule aufzubauen. Ruth ist eigentlich die talentierteste Musikerin der Familie, ganz Ebenbild der auf mysteriöse Weise verbrannten Mutter, flieht aber im Unterschied zu dieser nicht auf die Insel Musik.

Der Fisch und der Vogel können sich verlieben. Doch wo bauen sie ihr Nest? Um diese Frage kreist der Roman. Wie sieht der Ort aus, den sie, die Eltern und ihre Mischlingskinder, im Amerika des 20. Jahrhunderts suchen müssen? Powers Paar erscheint als eines, das die Idee von einem Leben jenseits der Schwarz-Weiß-Zuordnung Jahrzehnte zu früh verwirklichen will, in einer Welt, in der noch kein Platz dafür ist. Als angewandte Relativitätstheorie wird das erzählt: jeder ist mit seiner eigenen Geschwindigkeit unterwegs.

Die hochkomplexe Struktur hält der erzählerische Faden zusammen, der allerdings gegen Ende zu zerreißen droht. Seltsam fremd bleibt allerdings David Strom samt jüdischer Herkunft. Und die weniger emphatisch beschriebene Musik der Schwarzen zeugt davon, dass Powers eher in der europäischen Tradition daheim ist. Die physikalischen Theorien sind aber geschickt mit dem Geschehen verknüpft. "Der Klang der Zeit": ein 749 Seiten starker Roman, an dessen Klang man sich berauschen kann, am Klang des angehäuften Wissens ebenso wie der perfekten Konstruktion. Am Ende ist man wieder am Anfang. Der alte Kampf zwischen Weiß und Schwarz ist noch im Gange, wie die Straßenschlachten in Los Angeles 1992 zeigen. Und benommen hofft der Leser, dass nicht die Kunst der einzige Raum bleibt, in dem Fisch und Vogel ihr Nest bauen können.

Der Klang der Zeit

Roman von Richard Powers

Aus d. Amerik. v. Manfred Allie u. Gabriele Kempf-Allie

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2004

764 Seiten, geb., e 23,60

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