Ein Nummernvariete der Mentalitäten

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"Mein Jahrhundert" ist ein feines Weihnachtsgeschenk für jeden Literaturfreund, der auch die luftigen Aquarelle von Günter Grass zu schätzen weiß.

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"Mein Jahrhundert" ist ein feines Weihnachtsgeschenk für jeden Literaturfreund, der auch die luftigen Aquarelle von Günter Grass zu schätzen weiß.

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Große Literatur ist "Mein Jahrhundert" wohl nicht, da hatte das Literarische Quartett, noch vor der Bekanntgabe des Nobelpreises für den Autor, nicht ganz unrecht. Aber ein feines Geschenk für den Literaturfreund, der auch Günter Grassens Aquarellierkunst zu schätzen weiß, ist dessen jüngstes Buch auf jeden Fall. Natürlich nicht in der reinen Textausgabe, sondern in der großformatigen mit einem luftig hingepinselten Bild zu jedem der hundert Jahre. Wenn diese hundert Texte also vielleicht auch nicht genügen würden, Grass nobelpreisverdächtig erscheinen zu lassen (er hat ihn jetzt ja ohnehin), sind sie doch glänzend, dabei aber gut lesbar geschrieben, und der Kunstgriff mit den Kunstfiguren, die uns episodistisch-anekdotisch durch sein, Grassens, beziehungsweise unser gemeinsames Jahrhundert geleiten, geht auf. Sie entschlüsseln sich nicht so weit, daß sie uns langweilig werden könnten, oder es erscheint schon die nächste, sobald wir eine erkennen oder zur Genüge kennen, was meist allerdings schnell der Fall ist. So geht's zack-zack, mit schnellen Schnitten, durch das ganze Jahrhundert. Ein Potpourri der Blickwinkel, ein Nummernvariete der Mentalitäten, eine Prosa wie im Kino.

Beginnen läßt er das Jahrhundert sehr symbolisch auf dem Pekinger "Chienmen-Platz", wo noch die Zöpfe der Enthaupteten vom Boxeraufstand herumliegen und ein Deutscher einen als Souvenir mitnimmt. Das Jahr 1914 und gleich den ganzen ersten Weltkrieg Jahr für Jahr läßt er im Rückblick vorbeihuschen, mit zwei "e bitzeli fossil" wirkenden alten Herren namens Remarque und Jünger, die in Zürich, bei zwei Flaschen Rotwein die sie trennenden Gräben betonend, ihre Erinnerungen austauschen. Mit der Pranke des Löwen, den Nobelpreis kriegt man halt doch nicht für nix, verschneidet Grass die Gemütlichkeit der beiden alten Herren mit ihren nostalgischen Gesprächen über die Eigenheiten der verschiedenen Stahlhelme und die Vorteile des Feldspatens gegenüber dem Bajonett, das sich im Nahkampf gern zwischen den Rippen verklemmte, so daß man den Feind gegen den Bauch treten mußte, um es freizubekommen, während ein Spatenhieb glatt zwischen Hals und Schulter bis zur Brust durchging. 1921 läßt er Ilse Lepinski einen Leserbrief an Kurt Tucholsky schreiben, 1932 geht es so nicht weiter "mit Notverordnungen und immerzu Wahlen", 1933 läßt er den Maler Max Liebermann am Tag von Hitlers "Machtergreifung" den schon von Teufels General in Zuckmayers Stück zitierten, historischen, ewig aktuellen, sich auch heute beharrlich aufdrängenden Satz sprechen: "Ick kann janich soviel fressen, wie ick kotzen möcht." Und so weiter durchs Jahrhundert, mit typischen Stationen und Statiönchen. Natürlich mit kleinen Bosheiten durchsetzt, etwa wenn sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Ehemaligen treffen, die von der PK, der Propagandakompanie, die alten deutschen Kriegsberichterstatter also, und wenn er da einen, der nun "als Kunstsammler und auch sonst gut im Geschäft" ist, schon hat der Leser den Mann erkannt, "langatmig und dröhnend" auf die Pauke hauen läßt. Ein bißchen viel Aufwand, um eine Sottise gegen Lothar-Günther Buchheim unterzubringen. Auch den Zweiten Weltkrieg passieren wir im Zeitraffer, diesmal aus der Perspektive der PK-Männer, die verlorene Schlachten im nachhinein am Kaminfeuer gewinnen. Das Ganze kunstvoll, nicht ohne Gleitflüge durch die Niederungen des Gekünstelten, glaubwürdige moralische Empörung im engsten Clinch, hier dürfte der Schein nicht trügen, mit einer Portion platter Mißgunst.

Und so weiter durch die Nachkriegszeit, hinweg über den Stolperstein 1968. Ein Reporter, der von der "Welt" sein könnte, läßt sich 1970 zynisch über den Warschauer Kniefall von Willy Brandt aus. Eine von den rheinischen Lodenbataillonen, oder wie immer das Düsseldorfer Gegenstück zum feinen Hietzing oder Döbling heißen mag, berichtet 1978 Hochwürden, dessen Identität ebenfalls in Schwebe bleibt, wie der Opa, der einst Mitarbeiter des legendären Hermann Josef Abs von der Deutschen Bank war, überschnappte, sich eine Punkfrisur zulegte, Sicherheitsnadeln durch seine Ohrläppchen stach und am Morgen aus dem Haus ging, um das Bankhaus Mendelssohn zu arisieren. Worauf er in eine teure kleine Klinik eingeliefert wurde und die Kinder von allen Punk-Anwandlungen geheilt waren. Das alles kommt leichtfüßig daher, ganz ohne die Zementgewichte, mit denen Grass seine Geschichten gern belädt.

Fast ganz am Ende kündet ein Fund köstlicher Flaschenboviste im Wald dem Autor den rotgrünen deutschen Wahlerfolg. So wird ein Jahrhundert hundert, viel älter kann es zum Glück nicht werden, maximal hundertundeins, falls man das nächste korrekt Ende 2100 zu Grabe trägt.

Das Literarische Quartett legte halt wieder einmal, wie das deutsche Feuilleton insgesamt, an Günter Grass einen überzogenen Maßstab an. Hätte es ein anderer geschrieben, hätte der wohl für "Mein Jahrhundert" Lorbeeren geerntet. Ohne die Illustrationen der großformatigen Ausgabe ist das Buch freilich nicht einmal das halbe Vergnügen, soweit die Rückschau auf ein solches Jahrhundert überhaupt eines sein kann. Wenn Grass nie eine Schreibmaschine angerührt hätte, wäre aus ihm sicher ein geschätzter Maler geworden. Kein großer Bahnbrecher, aber einer mit witziger, karikaturistischer Phantasie. 1981 wird der Großadmiral Dönitz zu Grabe getragen. Herren mit Marinemützen und Ritterkreuzen tragen keinen Sarg, sondern ein U-Boot. Aber nicht dem Maler, sondern dem Dichter ist der Gag eingefallen, daß ausgerechnet ein linker Berliner Hausbesetzer Omas Telegramm bekommt, das ihn - "Zug sofort nach Hamburg nehmen" - zur Dönitz-Beisetzung beordert. Zwei von Omas drei Söhnen sind mit U-Booten abgesoffen, der eine im Eismeer, der andere irgendwo im Atlantik, doch sie verehrt den Großadmiral. Die alten U-Boot-Kommandanten im Spalier sehen drein, "als wären sie immer noch auf Feindfahrt und müßten den Horizont nach sowas wie ner Rauchfahne absuchen".

Hinterher sitzt der Hausbesetzer mit der Nazi-Oma in der Pizzeria auf dem Hamburger Hauptbahnhof. ",Meinst du wirklich, Oma, daß sich diese Geschichte mit dem Seemannsgrab von Onkel Konrad und Onkel Karl gelohnt hat?' War mir peinlich hinterher, daß ich sie das so direkt gefragt habe. Mindestens minutenlang hat sie nix gesagt, dann aber: ,Tja, min Jung, irgendeinen Sinn muß es ja wohl gehabt ham ...'"

Ja, "Mein Jahrhundert" ist schon ein würdiges Weihnachtsgeschenk am Ende dieses Jahrhunderts. Wer Grass für überholt und verstaubt hält, wird hier eines Besseren belehrt. Mit seinen 416 Seiten liegt es gerade richtig und ausgewogen zwischen den Fluten von Papier, die über jede Einzelheit dieses Jahrhunderts bedruckt wurden, und dem Kürzesten und Wahrsten, das darüber von Max Liebermann gesagt wurde.

Mein Jahrhundert Von Günter Grass. Steidl Verlag, Göttingen 1999. Großformatige Ausgabe mit Aquarellen 416 Seiten, Ln., öS 715,-/e 51,96

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