Ein Opfer für die Emanzipation

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Fortwährend kommen uns Menschen abhanden, und wir merken es gar nicht. Nur manchmal halten wir inne, schauen um uns und sehen, dass wieder viele fehlen. Nein, ich spreche nicht von den Toten, sondern von Menschen, die ihren gesellschaftlichen Untergang erfahren haben. Wo ist zum Beispiel das Fräulein hin verschwunden? Gewiss, es gibt noch Frauen, die man früher, weil sie ledig und jung sind, als Fräulein bezeichnet haben würde, und es gibt auch noch ältere oder alte Frauen, die all ihre Jahre niemals mit einem Mann zusammenleben. Aber ein Fräulein ist doch keine von ihnen.

Der Stolz, sich noch nicht oder überhaupt nie mit einem Mann eingelassen, Bett und Tisch, Träume und Wirklichkeit mit ihm geteilt zu haben, dieser Stolz, der früher dem jungen Fräulein verordnet und von manchem alten für sich beansprucht wurde, ist dahin. Dem Fräulein ist zuerst der Glanz der Tugenhaftigkeit abhanden gekommen, denn alleine für sich zu leben, heißt längst nicht mehr, sich in sexueller Selbstdisziplinierung zu üben; und die männerlose Existenz, die heute aus guten Gründen vielleicht sogar mehr Frauen als früher anstreben, hat nichts mit der Hilfsbedürftigkeit zu tun, unter die das Fräulein gestellt war. Objekt ritterlichen Schutzes zu sein, das wird sich die alleinstehende Frau von heute verbitten. Kurz, das Fräulein ist ein Opfer, das der Emanzipation dargebracht werden musste.

Recht besehen, begegnet man dem Fräulein eigentlich nur mehr in der Gastronomie; aber wenn man die Aufmerksamkeit der 40-jährigen, mit betrunkenen und nüchternen Männern reichlich erfahrenen Kellnerin mit dem Zuruf "Fräulein" zu gewinnen versucht, weil einem eben kein anderes Wort zur Verfügung steht: Ehrlich gesagt, wer von uns hätte dabei nicht ein eigenartiges Gefühl? In manchen Regionen der Schweiz wird das Fräulein der Gastronomie übrigens "Saaltochter" gerufen; aber das macht die Sache auch nicht besser.

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