Ein Orientalist im Harnisch

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In unserer von Hass und Krieg bedrohten Gegenwart den "erbaulichen und beschaulichen" Friedrich Rückert lesen? Ja, und vor allem: hören! Die alte Symbiose von Morgen- und Abendland vollendet sich in seiner Lyrik. Zum 150. Todestag des deutschen Dichters.

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In unserer von Hass und Krieg bedrohten Gegenwart den "erbaulichen und beschaulichen" Friedrich Rückert lesen? Ja, und vor allem: hören! Die alte Symbiose von Morgen- und Abendland vollendet sich in seiner Lyrik. Zum 150. Todestag des deutschen Dichters.

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Auf dem Marktplatz seiner fränkischen Heimatstadt Schweinfurt am Main thront Friedrich Rückert, zwischen Rathaus und Geburtshaus, wo er 1788 als Sohn eines Amtmanns zur Welt kam. Die Reichsstadt Schweinfurt wurde 1803 von Bayern annektiert: Die Turmuhr der Salvatorkirche trägt die Inschrift: "Reichsfreye Bürger bauten mich - Bayrisch werd' ich schlagen." Das von Thiersch und Rümann zum 100. Geburtstag geschaffene Monument ist eines der größten deutschen Dichterdenkmäler. Allegorien der Vaterlands- und Liebesdichtung und der (sechsbändigen!) Spruchdichtung "Weisheit des Brahmanen" flankieren den Poeten, dessen Gedächtnis die Rückert-Gesellschaft mit einer groß angelegten Gesamtausgabe ehrt.

Der junge Mann, Corpsstudent und Freimaurer, wurde von den Befreiungskriegen geprägt; er reihte sich in die Phalanx der politischen Lyrik. Mit Anspruch auf Vollständigkeit besang Rückert in Körners und Arndts Geist die Tiroler Hofer, Speckbacher und Haspinger, Erzherzog Karl, Habsburgs Adler, Schill, Scharnhorst, Gneisenau, Blücher und Stein. Die Sagenballade "Der alte Barbarossa, der Kaiser Friederich" hallte lange nach -sie ging in die studentischen Kommersbücher ein und inspirierte noch das wilhelminische Kyffhäuser-Denkmal. Onomatopoetisch erinnerte Rückert an die Völkerschlacht: "Kann denn kein Lied krachen mit Macht so laut, wie die Schlacht hat gekracht um Leipzigs Gebiet?"

All diese geharnischten Sonette, Zeitgedichte, kriegerischen Spott- und Ehrenlieder würden ihn nicht über die Masse der zeitgenössischen Poeten heben, mischte sich nicht "das Spottlied unter die Triumphe" ("Siegesbogen und Joch!"): "Was schmied'st du, Schmied? 'Wir schmieden Ketten, Ketten!' ( ) Was schreibest, Dichter du?,Einschreib' ich mein und meines Volkes Schande, das seine Freiheit nicht darf denken wollen.'" Anlässlich des Wiener Kongresses, der "nach einem schönen Plan, anstatt zu gehn, getanzt", pointierte er diese Kritik: Der "Herr Kongreß" ward "müde von all dem Saus und Braus, Tanz, Karussell und Schlittenfahrt, Turnier", und maskierte sich, "im Kreise drehend", als reaktionärer deutscher Bundestag.

"Stilvirtuose" und "Formenschwelger"

Die Abrechnung mit Napoleon in einer "politischen Komödie" hielten die Leser für missglückt, nur zwei Teile erschienen (1815/18). Der Geist der Zeit, Fortuna, Freiheit und Gleichheit, die Hebamm Politik, Große Nation und Ohnehos treten auf. In den erst jüngst veröffentlichten Fragmenten zur Napoleon-Farce wurde maßlose Machtanmaßung entlarvt, geradezu dadaistisch - der Text wäre einer modernen Hörspielfassung wohl wert: "Mamlucken. Sassa! Sasasa, sasasassa! Napoleon. Trotott trototrotrott! Hott, Hahn, hotohott! Ruhm. Pappa! Papapa Papapappa! Napoleon. Rußland und Hurra! Nehmt, wenn ihr Mut habt, nehmt mir den Ruhm da! Thut das! Gegen dich, hurra, gegen dich, Rußland, halt ich des Ruhmes Glanz." 20 Jahre nach Napoleons Sturz meinte Rückert, er habe den Gewaltigen ("So steh' ich herrschend im Dunkeln") "ahnungslos einst verschrien mit andern Schreiern".

Goethes "West-östlicher Divan" und das Wiener Lehrjahr 1817/18 mit dem fruchtbaren Kontakt zum großen Orientalisten Hammer-Purgstall wiesen Rückert den Weg aus der deutschen Misere. Sein immenses Sprachtalent öffnete ihm die "Fundgruben des Orients", die Fülle der arabischen, persischen und indischen Poesie. Die Literaturgeschichte hat Rückert als "Stilvirtuosen" und "Formenschwelger" in "Turban und Kaftan","der sich didaktisch räuspert", gescholten (R. Gottschall, 1901). Selbst der wohlmeinende Herausgeber einer Rückert-Anthologie sprach von "erdrückender Breite der Produktion" und "vertrackten Bosseleien" (J. Pfeiffer, 1953). Dennoch: Rückert erfüllte Goethes großes Programm der "Weltliteratur", in der Einheit von Philologie (Professuren in Erlangen und Berlin) und Poesie. Nicht nur Wiederbelebung von Ghaselen und Makamen, sondern auch die Fernwirkung jahrhundertealter Ost-West-Begegnung in den vielfältigen Formen von Romanzen, Canzonen, Madrigalen, Ritornellen, Sizilianen, Terzinen, Balladen, Sonetten befruchtete Rückerts Translation. In der Dichtung der Troubadours und Minnesänger, Dantes und Petrarcas, hatten sich Morgen-und Abendland vermählt. Auch der Zeitgenosse August Graf Platen bezeugt diese Synthese.

Katalysator der Kulturen

Die Wiener Orientalistik wurde zum Katalysator der Kulturen. Das Verständnis der vielstimmigen Literatur der Völker und Religionen hatte Rückert in der zum Osten geöffneten Donaustadt aufgesogen. Über Hafiz, Saadi und Firdusi hinaus entdeckte Rückert Hariri und die pantheistische Mystik des Mewlana Dschelaleddin Rumi: "Ich ward in allem alles, sah in allem Gott, und tät, von Einheitsglut entfacht, den Liebesruf." - Zu Rückerts Zeit erreichte die orientalische Frage, im diplomatischen und militärischen Ringen der Mächte um das Erbe des schwächelnden Osmanischen Reichs, einen ersten kritischen Höhepunkt. Im damals heiß umkämpften Syrien beobachtete der preußische Offizier Hellmuth von Moltke die Schlacht bei Nisib am Euphrat zwischen Ägyptern und Türken; Erzherzog Friedrich, Sohn des Siegers von Aspern, zeigte sich in Kreuzfahrertradition auf den Zinnen von Akkon. England engagierte sich in Afghanistan und im Opiumkrieg - und Frankreich verlagerte den Konflikt im Nahen Osten, von dem man damals zu sprechen begann, an den Rhein (1839/40).

Von Gustav Mahler vertont

In unserer von Hass und Krieg bedrohten Gegenwart den "erbaulichen und beschaulichen" Rückert lesen? Ja, und vor allem: hören! Die alte Symbiose von Morgen- und Abendland (Rückert: "Weltmutter Liebe") vollendet sich in seiner Lyrik. Oft genügt eine Strophe, ja eine Zeile, um dies, überhöht von Schuberts und Schumanns Musik, zu erkennen: "Du bist die Ruh, der Friede mild, die Sehnsucht du und was sie stillt" oder "Du meine Seele, du mein Herz (...) Mein guter Geist, mein bessres Ich!" 1833/34 starben Rückerts Kinder Luise und Ernst im Alter von drei und fünf Jahren an Scharlach. Die 428 Kindertotenlieder wurden erst aus dem Nachlass herausgegeben. Fünf davon hat Gustav Mahler vertont, auch das ergreifende: "Du bist ein Schatten am Tage, doch in der Nacht ein Licht! Du lebst in meiner Klage und stirbst im Herzen nicht."

Gleichfalls postum wurde Rückerts Koran-Übersetzung bekannt -sie darf in der Wiedergabe der rhythmischen Reimprosa unter die besten gereiht werden. Als Beispiel die 97. Sure Al-Qadr über die Offenbarung des Koran: "Im Namen Gottes, des allbarmherzigen Erbarmers. Wir sandten ihn hernieder in der Nacht der Macht: Weißt du, was ist die Nacht der Macht? Die Nacht der Macht ist mehr als was in tausend Monden wird vollbracht. Die Engel steigen nieder und der Geist in ihr, auf ihres Herrn Geheiß, daß alles sei bedacht. Heil ist sie ganz und Friede, bis der Tag erwacht." Dies klingt zusammen mit Goethes erhabenem Friedenswort nach Sure 2: 115: "Gottes ist der Orient! Gottes ist der Orient!" - Motto des "West-östlichen Divan". Am 31. Jänner 1866 starb Rückert auf seinem Gut Neuses bei Coburg. Der Deutsche Krieg - Königgrätz -sollte den bis zuletzt schaffenden Greis nicht mehr verstören.

Unverstand hat Rückert als philiströsen, eklektischen Epigonen gescholten. Nein, er war kein gelehrter Biedermeier im Niemandsland zwischen Romantik und Realismus, er erfüllte vielmehr den Auftrag der Klassik, Herders und Goethes. In seiner einst in den Lesebüchern tradierten Ballade vom "ewig jungen Chidher", einer mythisch wiederkehrenden Gestalt, verdichtete Rückert Geschichte als ewigen Wandel von Wald und Meer und Schalmei, Stadt und Volksgeschrei: "Und aber nach fünfhundert Jahren will ich desselbigen Weges fahren." Das Einzelleben ist aufgehoben im Strom der Zeit, so das einst vielgesungene "Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit klingt ein Lied mir immerdar, o wie liegt so fern, o wie liegt so fern, was mein einst war "

Golo Mann hat anlässlich des 200. Geburtstages Rückert zu Recht einen der liebenswertesten unter den deutschen Dichtern genannt. Über die deutsche Literatur und Sprache hinaus fügen wir hinzu: Dieser Vergessene ist wahrhaft ein Weiser, dem wir zuhören sollten.

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