Ein sehr schaler Sturm

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In Peter Handkes "Immer noch Sturm" erfragt sich ein Ich die Gesellschaft seiner Ahnen. Im Schauspielhaus Graz zieht das Gedenkspiel als kraftloses Beschwörungsspektakel über die Bühne.

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In Peter Handkes "Immer noch Sturm" erfragt sich ein Ich die Gesellschaft seiner Ahnen. Im Schauspielhaus Graz zieht das Gedenkspiel als kraftloses Beschwörungsspektakel über die Bühne.

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Unzählige Theaterstücke erzählen vom Zweiten Weltkrieg, kolportieren und dokumentieren das Schreckliche: Brecht, Borchert, Müller, Walser, Tabori schrieben Geschichtstheater. Was aber ist es, was vergleichsweise dazu Peter Handkes Stück "Immer noch Sturm" so eindringlich macht: die Idee, dass der Reichtum unserer Erfahrungen abhängig ist vom Reichtum der Sprache, von ihren erträumten Bildern und Metaphern?

Gebrochenes Versprechen

Handkes Geschichtsplateau ist ein blinder Fleck mitten in Europa. Dort im Jaunfeld, zwischen Saualpe und Karawanken, im südlichen Kärnten ist "Immer noch Sturm". Es geht, jedenfalls auf den ersten Blick, in dieser dramatischen Erzählung um den Freiheitskampf einer slowenischen Minderheit (der auch Handkes Mutter angehörte) gegen die deutsche Besatzungsmacht, um den Kampf der Partisanen in den Wäldern, um die Angst und das Schweigen der Hinterbliebenen. Vor allem aber geht es darum, dass das Versprechen der Freiheit gebrochen wurde und sich der Sturm bis heute nicht gelegt hat, wie könnte er sich auch legen bei denen, die keine eigene Sprache mehr haben. Mehrmals zuvor hatte Handke bereits seine Ursprungsgeschichte literarisch durchwandert: in den Erzählungen "Wunschloses Unglück","Die Wiederholung", in Stücken wie "Über die Dörfer". Niemals aber so deutlich wie im Gedenkspiel "Immer noch Sturm", in dem er Persönliches und Historisches, Fiktion und Realität, stille Momente und Klartext zu einem poetischen Innenbild fügt. Auch wenn er dieses im Offenen belässt, vermag es dennoch Einverständnisse und Eingeständnisse zu imaginieren.

Handkes Königsweg zum Drama ist dabei die Selbstbefragung. Schon in seinem Stück "Das Spiel vom Fragen" entsteht aus der Frage alle Bewegung, ja eine ganze Welt. In "Immer noch Sturm" erfragt sich ein Ich die Gesellschaft seiner Jauntaler "Apfelmenschen", seiner Ahnen: "Aber du, Sohn: bist du bei uns geblieben? Wirst du bei uns bleiben? Hast du uns nicht immer wieder abtun wollen? Uns loswerden? So bleib bei uns. Hast du denn nicht gemerkt, daß du gar nicht anders kannst, du Obstgartenflüchtling?"

Die Fragen werden Seite um Seite ausgeworfen, in diesem Drama, das ohne Szenenanweisungen, ohne scharf umrissene Charaktere auskommt. Das fragende Ich fungiert dabei als Spieler, bei dem die Mitspieler, die Verwandtschaftssippe wie in einem modernen antiken Drama gleichermaßen zu Miterzählern und Beobachtern werden. Am Ende des Fragens steht der Selbstverlust des Fragenden selbst, denn Selbstfindung und Selbstauslöschung hängen unweigerlich zusammen. Das Stück endet mit dem Satz, dass wir "mehr oder weniger verschwunden sein werden, erkenntlich höchstens an den Handzeichen, mit denen wir einander noch zuwinken."

In der Inszenierung und dem Bühnenbild des deutschen Regisseurs Michael Simon aber bleiben nach mehr als drei Stunden mehr als nur leise Gesten zurück: meterhohe, mit deutschen und slowenischen Parolen bestrichene Kulissenwände ragen wie Ruinenteile empor, die die Traumhelden und Laiendarsteller aus dem Zweisprachenland bei apokalyptischem Gegenlicht und Live-Musik (hervorragend) begehen. Die Bühnenwelt dreht sich: laut und betroffenheitstrunken.

Vielversprechender Beginn

Dabei hatte es vielversprechend begonnen: Wie zu einem langen und hohen Gebirgszug waren an der Bühnenrampe Alltagsgegenstände zusammengetragen, die ein einfaches Unter-Kärntner Leben begleiten: Obstpresse, Leiterwagen, Strohkörbe, Milchkannen und die (Haus)Bank unterm Apfelbaum, die zum Hinschauen und Zuwarten, zum Ausharren und Träumen verleitet.

Zwischen diesen Dingen hätte die Inszenierung in der Schwebe, in der Sprache bleiben müssen, in der bei Handke alles geschieht. Doch das gelang nicht, am wenigsten dem Handke-Ich (Christoph Rothenbuchner), das immer wieder aus der Sprache kippte und so über weite Strecken buchstäblich nichts mehr zu sagen hatte. So blieben die von ihm herbeigeträumten Begegnungen mit der Mutter (Seyneb Saleh), ihren Brüdern (Julius Feldmeier, Jan Thümer, Kaspar Locher) und ihrer Schwester (Birgit Stöger) ganz im Offensichtlichen, Gestischen und allzu Klaren hängen. Mehr Halloween also als Allerseelenspiel, dafür sorgten auch die übergroßen Ersatzköpfe, unter denen sich die Schauspieler zeitweise verbargen. Aber da saß man ohnehin bereits seit langem wach in diesem Traumspiel.

Immer noch Sturm

Schauspielhaus Graz

25., 26. Februar, 5., 6., 21. März

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