Ein Selfmademan der ganz anderen Art

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Erwin Rennert erzählt vom Heranwachsen eines nach Amerika verschlagenen Wiener Kindes.

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Erwin Rennert erzählt vom Heranwachsen eines nach Amerika verschlagenen Wiener Kindes.

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Es gibt sie derzeit in nicht unbeträchtlicher Menge, die Lebenserinnerungen aus Österreich, Deutschland und anderen Ländern geflohener Juden. Das Wort von der "Flut der Emigrantenliteratur" geht um. Ein Wort, woran einerseits etwas Wahres ist - und dem andererseits doch ein unguter Beigeschmack anhaftet. Hat doch noch längst nicht jeder Österreicher wenigstens eines dieser Bücher gelesen. Auch längst nicht jeder Österreicher, der regelmäßig Bücher liest. Entspringen diese Bücher aber dabei doch einem Nachholbedarf. Nicht nur die Überlebenden der Lager, sondern auch ein Teil der vertriebenen Juden war erst nach Jahrzehnten bereit oder in der Lage, über das eigene Leben zu sprechen und zu schreiben. Einige besonders berührende Bücher sind Niederschriften mündlicher Erzählungen im Familienkreis, zu denen der Erzähler erst im Alter in der Lage war. Ein bekanntes, sehr verständliches psychologisches Phänomen.

Steht doch hinter jedem dieser Bücher ein aus der Bahn geworfenes Leben. Hat doch so gut wie jeder, der heute in der Lage ist, sich seine Erinnerungen von der Seele zu schreiben, Angehörige verloren, die niemandem mehr etwas von ihren vernichteten Hoffnungen erzählen können. Auch Erwin Rennert, dessen Buch "Der Welt in die Quere" ich soeben mit Anteilnahme, Gewinn und Vergnügen gelesen habe, verlor seine Eltern.

Rennerts Schicksal ist sehr typisch. Er hat auch nicht mehr zu sagen als viele andere der Autoren, die das Glück hatten, 1938 oder etwas später Österreich gerade noch verlassen zu können. Was alles andere als negativ gemeint ist, denn sehr viele von ihnen haben uns sehr viel zu sagen. Und nicht nur über das jüdische Schicksal im vergangenen Jahrhundert, diesem "Jahrhundert der Wölfe". Erwin Rennerts Buch sticht trotzdem hervor, und zwar, weil er, auch unter den Emigranten, von denen viele gut schreiben, besonders gut schreiben kann. Und weil er eine geradezu archetypische Situation allgemeinen menschlichen Interesses schildert.

Es ist die Situation des von den Eltern getrennten, in die Fremde verschlagenen Kindes, das gerade dabei war, mit Bewusstsein die Welt zu entdecken, und das nun, auf sich gestellt, dafür sorgen muss, wo es bleibt und was es aus sich macht. Alle Revolutionen, alle historischen Katastrophen haben genau dieses Schicksal sonder Zahl produziert. Aber auch ganz individuell passiert es immer wieder, früher vor allem durch Verwaisung. War die vorangegangene Kindheit glücklich, hat das in die Fremde verschlagene Kind immerhin eine mächtige innere Ressource, auf die es zurückgreifen kann.

Die Eingangskapitel von Rennerts Buch gehören zum Schönsten, was man in den letzten Jahren über glückliche Kindheiten lesen konnte. Und keineswegs nur in der aktuellen Erinnerungsliteratur. Wunderbar zu lesen sowohl als Kindheitsgeschichte an sich, Geschichte einer behüteten und harmonischen Kindheit in bescheidenen materiellen Verhältnissen, als auch in der konkreten historischen Situation der dreißiger Jahre in Wien. Bis zum herzzerreißenden Abschied von den Eltern, die für Sohn und Tochter gerade noch die Passage nach Amerika bezahlen konnten - die Kinder erwischen das letzte Schiff vor Kriegsausbruch. Die Kindheitskapitel haben das Zeug zu einem Klassiker dieses Genres. Allein sie lohnen den Kauf von "Der Welt in die Quere".

Die nächsten auch, in ganz anderer Hinsicht. Interessant und faszinierend ist dieser Blick auf das Amerika der späten dreißiger und frühen vierziger Jahre, gesehen mit dem naiven, völlig unvoreingenommenen, aber stets auf die vitalen Notwendigkeiten des Lebens gerichteten Blick des Heranwachsendenden. Erwin Rennert bringt es fertig, den Erwachsenen weitgehend auszublenden und sich in den jungen Menschen zurückzuversetzen, der er war. Er hat sich seine Erinnerung in ihrer Frische bewahrt, was nur wenigen gelingt.

Vielleicht war es nicht schlecht für Rennert, dass er in New York von der Schwester getrennt wurde und bei Verwandten eine Bleibe, aber durch pädagogische Ahnungslosigkeit der guten Leute keine innere Stütze und Führung fand. Er musste selbst etwas aus sich machen. Er ist ein Selfmademan der anderen Art, der kein Geld anhäufte, sondern ohne formelle Bildung seine intellektuelle und menschliche Entwicklung schaffte.

Über Strecken liest sich das Buch wie der Entwicklungsroman eines Ich-Erzählers, der aber den Vorteil hat, dokumentarisch und sehr amerikanisch zu sein: Ein Halbwüchsiger und, kein Wunder, totaler schulischer Misserfolg hangelt sich von Job zu Job. Das Kino, dem er verfallen ist, und die Dichtung sind die Ressourcen seiner Bildung. Als Ausreißer verbringt er die Tage am liebsten in Bibliotheken, wo das Lesen nichts kostet. Eines Tages beschließt er, alle Fesseln abzuwerfen und nach Kalifornien zu trampen. Dabei entdeckt er sich selbst und die positive Realität der USA, die amerikanische Unvoreingenommenheit gegenüber Fremden und viel Hilfsbereitschaft.

Rennert schreibt direkt und mit einer großen Portion Selbstironie. Mit dieser Selbstironie macht er sich auch an den Stellen sympathisch, wo er zu erkennen gibt, dass er der Schwester gegenüber oft ganz gern den tollen Hecht spielte. Mit Selbstironie schafft er die selbstkritischen Untertöne, die zu so einer Lebensbeichte mit großem happy end (langes, glückliches Familienleben in Wien) gehören. Fazit: Ein gut geschriebenes, gut zu lesendes, rundum sympathisches Buch von glücklicher Kindheit und von der Selbstfindung eines jungen Mannes in der Fremde. Und last, but noch least auch ein trotz allen unerfreulichen Episoden mit großer Wärme geschriebenes Buch über die Stadt der Herkunft und Rückkunft, Wien.

Der Welt in die Quere Von Erwin Rennert, edition exil (1080 Wien, Amerlinghaus, Stiftgasse 8), Wien 2000, 300 Seiten, Fotos, Pb., öS 180,-/e 13,08

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