Ein Spiegelbild der Welt: Reality-TV

Werbung
Werbung
Werbung

Reality-TV-Sendungen wollten ursprünglich die Realität so abbilden, wie sie ist. In diesem Sinne spiegelt sich im neuen Trend hin zu immer ekelhafteren Sendungen ein fragwürdiges Bild der realen Welt und des Menschen.

Die Ursprünge der Reality-TV-Sendungen gehen zurück bis in die 1940er Jahre. Lange Zeit ließ sich der Zuseher von versteckten Kameras oder harmlosen Talentshows verzücken. Doch die verspielte Unterhaltungsform mit voyeuristischer Prägung hat inzwischen radikale Veränderungen durchgemacht. Es war wohl der Kampf um Einschaltquoten, der die TV-Produzenten zu immer bizarreren Ideen trieb. Heute charakterisieren Attribute wie Ekel, Geschmacklosigkeit und moralische Entgleisungen Sendeformate im Reality-Modus. Wie schon so oft kennzeichnet auch hier ein harmloser Beginn einen späteren, fragwürdig gewordenen Entwicklungsverlauf.

Quoten mit Geschmacklosigkeiten

Um die Quoten der einzelnen Sendungen weiter halten oder gar steigern zu können, versuchen nun die Macher dieses Voyeurmarktes, sich an Perversionen in den gezeigten Inhalten zu überbieten. Neuere Sendeformate entwachsen ihrem voyeuristischen Erbe und beginnen, andere Elemente wie Geschmacklosigkeit oder Sadismus als subtile Aufwertung zu integrieren. Dem Publikum scheint es zu gefallen. Denn dieses erkennt sich scheinbar selbst in den gezeigten Sendungen und nimmt das eigene, sich verändernde Wesen wenig selbstkritisch an.

Die Realität möglichst genau abbilden: Mit diesem Vorhaben ist das Genre ursprünglich an den Start gegangen. Offensichtlich entsprechen die neuen inhaltlichen Aufwertungen der Realität im angehenden 3. Jahrtausend.

Schaut man sich die aktuellen Sendeformate an, so muss man sich nicht mehr nur fragen, wo hier der Unterschied von gelungener Unterhaltung und übertriebener Geschmacklosigkeit verläuft. Die Frage, die sich aufdrängt, ist grundsätzlicher: Ob denn der Begriff der Menschenwürde einer neuen Definition bedarf. Denn als Zuseher ist man heute Zeuge abartig gewordener Vorstellungen der Menschenwürde von zum Teil mit Versagensängsten behafteten Persönlichkeiten. Selbstverständlich wissen die Kandidaten, worauf sie sich einlassen und haben dafür vermutlich eine beträchtliche Aufwandsentschädigung bekommen. Doch sollte sich ab einem bestimmten Punkt jeder selbst fragen, ob man für Geld auch die eigene Seele verkaufen würde.

Alles für die Quote

Für gute Quoten werden ohne weiteres gesellschaftliche Grundprinzipien untergraben. Alles wird scheinbar unternommen, um ein verwöhntes Publikum, welches sich anscheinend an Mord und Totschlag in Spielfilmen, an Toten und Verwundeten in der täglichen Kriegsberichterstattung satt gesehen hat, weiter bei Laune zu halten. Reine Profitgier steht hier über dem Wohl des Einzelnen zum Zwecke der Unterhaltung der Masse.

Die Frage, ob derartige Tendenzen eines Tages vielleicht demokratiezersetzende Eigendynamiken entwickeln werden, erscheint dabei nicht mehr so abwegig. Ist nicht das bewusst herbeigeführte Ausschalten moralischer Grenzen integraler Bestandteil abzulehnender Ideologien und radikaler Fundamentalismen? Eine demokratietheoretische Debatte in diesem Kontext loszutreten, erscheint deswegen von Interesse, da Demokratien sich auf Verfassungen und allgemein gültige Gesetze stützen und dadurch erst wird modernes, soziales Zusammenleben möglich, indem es reguliert wird. Kurz: Es werden Grenzen gesetzt, oder genauer gesagt: Es müssen Grenzen gesetzt werden. Gäbe es diese nicht, ist wohl jedem klar, dass die Welt, wie wir sie kennen, in einer Art naturwüchsigem Prozess auseinanderdriften würde.

Welch Chaos folgen könnte, wird derzeit an den unregulierten Finanzmärkten vorexerziert. Diese Krise verdeutlicht beispielhaft den schleichend verlaufenden Paradigmenwechsel von traditionellen Werten hin zu Geldwerten, vom Miteinander zum Nebeneinander. Eine mögliche Konsequenz und die logische Steigerungsform wäre dann nur mehr das Gegeneinander.

Haben wir heute bei der wesensmäßigen Grenzenlosigkeit und der zunehmenden moralischen Abstumpfung menschlichen Handelns Sendeformate, die derlei Tendenzen noch fördern, welcher noch fragwürdigeren Sendeinhalte bedarf es dann in Zukunft, um die Massen vor den Bildschirmen zu unterhalten? Vielleicht Sendeformate mit dem Titel "In jedem von uns steckt doch ein Metzger" oder "Ich kenne keine Schmerzen"?

Medien als Moralinstanz

Medien beanspruchen in Demokratien neben ihrer Funktion als Informationsmarkt und Diskussionsplattform vor allem auch die einer Moralinstanz. Als solche vermitteln sie einen demokratietheoretisch äußerst sinnvollen Rahmen. Oder einfacher formuliert: Sie vermitteln die Grenzen von in einer Gesellschaft zulässigen, allgemein anerkannten Werten. Verschiebt sich dieser Rahmen, so ändert sich auch das Wertebewusstsein der Menschen in der Gesellschaft und erzeugt so abweichende Tendenzen zu ursprünglich geächteten Vorstellungen und Handlungen. Dekadente Entwicklungen verfestigen sich so unbemerkt in unserem Denken und legitimieren sich derart selbst. Unbemerkt deshalb, weil die relevanten Moralhüter selbst zu deren Träger werden. Die Konsumenten auf der anderen Seite konsumieren selbstverständlich, was ihnen geboten wird.

Und mittlerweile ist die Geschmacklosigkeit diverser Reality- Formate auch auf Familiensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens übergeschwappt: In der vergangenen "Wetten, dass"-Sendung wurde bekanntlich die Fertigkeit des Kot-Schnüffelns und -Erkennens allgemein bestaunt. Wetten, dass diese Entwicklung keine Grenzen kennt?

Salonfähiger Sadismus

Auf derartige Weise wird sich die Liste der in unserer Gesellschaft großgeschriebenen ethischen Prinzipien wie Integration, Gleichheitsdenken, individuelle Freiheit und gemeinschaftliches Zusammenleben bald um die Begriffe Abartigkeit, salonfähig gewordener Sadismus, perverse Geschmacklosigkeit und fragwürdige Sensationsgeilheit erweitern lassen.

Der Autor ist freier Publizist und lebt in Wien

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung