Ein Stück Weltliteratur aus dem fernen Baltikum

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Der Geburtstag des Dichters Donelaitis wurde im vergangenen Jubiläumsjahr nur in seiner litauischen Heimat gefeiert. Zu Unrecht.

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Der Geburtstag des Dichters Donelaitis wurde im vergangenen Jubiläumsjahr nur in seiner litauischen Heimat gefeiert. Zu Unrecht.

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Das vergangene Kalenderjahr 2014 gab vielfältigen Anlass zum Gedenken und Bedenken, zur Besinnung auf Worte und Werte, zur Vergewisserung des kulturellen Erbes, auch zur (Wieder-)Entdeckung verborgener oder verschütteter Güter aus allen Sparten der Kunst. Im Bereich der Musik hat der 150. Geburtstag von Richard Strauss im eigentlichen Sinn die Szene beherrscht; Giacomo Meyerbeer, im selben Jahr 1864 verstorben, hat dagegen nur schüttere Aufmerksamkeit erfahren. William Shakespeare, 1564 geboren und ohnehin ein Stammgast auf den Bühnen der Welt, ist über die unmittelbare theatralische Wirkung hinaus als großer Anreger in das Bewusstsein getreten: für archetypische Handlungsmuster, für Opernlibretti sowie Sujets der bildenden Kunst.

Vor genau 300 Jahren wurde der bedeutende Komponist und Opernreformer Christoph Willibald Gluck geboren. Durch Neuinszenierungen seiner Werke und musikwissenschaftliche Reflexion seines Schaffens hat man dieses Datum gebührend gewürdigt. Dass am 1. Jänner 1714 in der ostpreußischen Ortschaft Lasdinehlen nahe Königsberg Kristijonas Donelaitis auf die Welt gekommen ist, wurde dagegen in unseren Breiten kaum wahrgenommen. In Litauen war das freilich anders, wie man sich bei einer Tagung in Vilnius überzeugen konnte. Aber ist dieser Pfarrer, Lehrer und Dichter nur eine regionale Erscheinung, ein Lokalheros, ein Poet aus der Provinz, wie man aus diesem Rezeptionsgefälle schließen könnte? Eine nähere Betrachtung seines Hauptwerks spricht freilich gegen dieses oberflächliche (Vor-)Urteil: Denn sein Versepos "Metai", also "Jahreszeiten", ist ein Literaturdenkmal, das sich Goethes "Hermann und Dorothea" oder den "Georgica" eines Vergil würdig an die Seite stellen lässt.

Wechselspiel von Lust und Leid

Das karge Leben und der bescheidene Charakter des 1780 verstorbenen Autors haben bewirkt, dass seine Dichtung erst fast vierzig Jahre nach seinem Tod (1818) erscheinen konnte. Auch der Titel des Werkes ist eine nachträgliche Zutat. Eigentlich wollte der Verfasser nur die einzelnen Perioden des Jahres in ihren Wesenszügen erfassen und beschreiben. So heißen die Überschriften der einzelnen Abschnitte denn auch sinngemäß Frühlingsfreuden, Sommermühen, Herbstfülle und Wintersorgen. Im Wechselspiel von Lust und Leid, von Überfluss und Mangel offenbart sich ein weiteres Merkmal der gewählten Thematik und ihrer strukturellen Verfahren. Zwar folgt das Genre einer Zeitströmung des 18. Jahrhunderts, in der Naturstimmungen und der Jahreszyklus als Gegenstand entdeckt werden: James Thomsons Poem "The Seasons", die Textvorlage von Joseph Haydns Oratorium "Die Jahreszeiten", ist nur eines von zahlreichen Beispielen. Doch dem Epos von Donelaitis fehlen jene behaglich-idyllischen Eigenschaften, die den zeittypischen literarischen Erzeugnissen im Gefolge der Philosophie eines Jean-Jacques Rousseau eignen: Das haben frühe Entdecker des fast verschollenen Litauers wie der bedeutende polnische Dichter Adam Mickiewicz bald erkannt. In neuerer Zeit aber hat man die ungeschminkten Einblicke in das ländliche Leben nicht unpassend mit den realistischen Gemälden des Bauern Breughel verglichen.

Pädagogischer "Subtext"

Donelaitis verquickt in den Jahreszeiten die Vorgänge in der Natur mit Zuständen und Ereignissen des rustikalen Milieus und spart dabei sozialkritische Töne keineswegs aus. Das harte Leben der leibeigenen Bauern und die hochfahrende Willkür der Gutsbesitzer - über die wir nur durch Erzählungen aus der "Froschperspektive" erfahren - prallen schroff aneinander: So wird ein treuer Diener seines Herrn aus nichtigem Anlass zu Tode geprügelt. Aus der Vielzahl der Episoden treten einzelne Gestalten deutlicher hervor, verdichten sich zu Leitfiguren. Wen der durchgehend strenge Hell-Dunkel-Kontrast im Personenprofil verwundert, vielleicht sogar stört, der sei an den pädagogischen "Subtext", an die pastoralen Schwingungsknoten erinnert, die der Prediger und Lehrer unwillkürlich in sein kreatives Schreiben einbrachte. Was allerdings aus heutiger Sicht fremd anmutet, ist das Fehlen aller revolutionären Untertöne, der Verzicht auf eine (aussichtslose) Konfrontation der Untertanen mit der Herrschaft. Die Inkubationszeit von Aufruhr und aggressivem Widerstand hatte noch nicht einmal eingesetzt und erreichte auch nach den Umbrüchen von 1789 das nordöstliche Europa erst verspätet. Worauf ein Autor wie Donelaitis hoffen und seinen Leserkreis einstimmen konnte, war hingegen eine höhere Gerechtigkeit, die nicht in dieser Welt beschlossen lag.

Diese Haltung wird auch aus der Anrede an den "lieben Vater im Himmel" deutlich, mit der das Werk in einer Art von zuversichtlichem Realismus hoffnungsvoll schließt. (Übersetzung von Hermann Buddensieg, 1966)

Wir einfältigen Wesen wissen nicht, was Du gefügt hast, / Deine Gedanken sind uns ein nie zu ergründender Abgrund, / Wenn wir uns einmal erkühnen, in seine Tiefen zu schauen. / Sorg weiter, Vater im Himmel, für alles, was wir bedürfen, Sorg wie ein Vater, wenn nur der Frühling wieder zurückkehrt / Und wir wieder auf Feldern redlich schuftend uns quälen.

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