Ein Trieb wie die Sexualität?

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"Macht": Bertrand Russells Klassiker ist wieder zu haben.

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"Macht": Bertrand Russells Klassiker ist wieder zu haben.

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Macht muss sein, entweder die von Regierungen oder die anarchischer Abenteurer. Es muss sogar nackte Gewalt geben, solange es Rebellen gegen Regierungen oder einfach gewöhnliche Verbrecher gibt", lässt uns der englische Philosoph Bertrand Russell wissen. Ohne Machtverteilung ist Gesellschaft nicht funktionsfähig. Macht als notwendiges Übel? So einfach ist es nicht. Sehr früh und immer wieder beschäftigten sich Philosophen im Rahmen der Ethik mit der Macht. Meist stand die Frage im Mittelpunkt, wie eine Gesellschaft oder ein Staat auf bestmögliche Weise organisiert werden kann. Man denke an Platons Philosophenstaat, der allerdings stark totalitäre Züge trägt, an Machiavellis "Il principe", an Bentham, Nietzsche oder Karl Marx.

Russells Studie "Power" erschien 1938 nicht zuletzt unter dem Eindruck des Aufstiegs der Nazis in Deutschland und der bolschewistischen Diktatur in Russland. Russell näherte sich seinen Themen bevorzugt historisch und stellte immer wieder Zusammenhänge mit der politischen Situation seiner Zeit her. Macht und Gewalt im Staat und zwischen den Staaten lagen am Vorabend des Zweiten Weltkrieges sozusagen in der Luft. Russells Abhandlung ist über weite Strecken "Gebrauchsphilosophie". Seine pazifistische Einstellung war eine positive Gegenposition zu den autoritären Regimen. Das Buch konnte erst nach dem Zweiten Weltkrieg, 1947, auf Deutsch erscheinen.

Russells stilistische Brillanz wurde 1950 mit dem Nobelpreis für Literatur gewürdigt. Er starb 20 Jahre später mit 98 Jahren. Manches mag veraltet erscheinen, etwa wenn es um das Verhältnis zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht geht, aber zum Großteil haben Russells Gedanken nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Zunächst werden wir mit der Machtliebe konfrontiert, einer Begierde, die so stark sei wie der Sexualtrieb. Macht sei ein "Fundamentalbegriff in der Gesellschaftswissenschaft", ebenso grundlegend wie der Begriff der Energie in der Physik. Ein solcher Machtbegriff wirkt sich natürlich auch auf die Interpretation historischer Vorgänge aus.

Wir lesen bei Russell von römischen Feldherren und Kaisern, vom Aufstieg des Christentums, den Renaissancepäpsten, vom Islam und Buddhismus, von den Tyrannen im alten Griechenland, den Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Er unterscheidet zwischen verschiedenen Formen der Macht, etwa der priesterlichen, der königlichen, der revolutionären oder der wirtschaftlichen Macht. Dazu kommt noch die Macht über die Meinung und damit der Glaube als Ursprung von Macht sowie die "Biologie der Organisationen", ein Kapitel, das später Michel Foucault in einer sehr technischen Betrachtungsweise fortgeschrieben hat.

Zu den interessantesten Aspekten von Russells Machttheorie gehört die Unterscheidung zwischen traditioneller Macht und der "nackten Gewalt". Macht sei traditionell, wenn sie etabliert ist und von den "Untergebenen" anerkannt wird. Mit "nackter Gewalt" ist nicht gemeint, was man landläufig darunter versteht, sondern Macht, die von den Beherrschten nicht anerkannt wird. Dass dies auf Diktaturen zutrifft, leuchtet ein. Aber auch für den Verbrecher wird der Arm des Gesetzes zur nackten Gewalt, meint Russell, er habe ja die Normen, gegen die er verstößt, offensichtlich nicht akzeptiert. Am augenscheinlichsten wird die Unterscheidung bei den Religionen.

Die Verhaltensregeln und Dogmen der katholischen Kirche bedeuten, meint Russell, für Anhänger anderer Religionen oder Atheisten nackte Gewalt, wenn man sie ihnen aufzwinge, was durch Jahrhunderte geschah. Er begnügt sich aber nicht mit der Beschreibung von Formen und Auswirkungen der Macht, sondern beschäftigt sich mit den Möglichkeiten einer "Zähmung der Macht". Erstens nennt er politische Bedingungen, allen voran die Staatsform der Demokratie. Weiters braucht eine in diesem Sinn gut funktionierende Gesellschaft Gleichberechtigung der Bürger. Die Unterdrückung von Frauen, der Arbeiterklasse, ethnischer oder religiöser Minderheiten sei zu vermeiden. Dazu kommen Gewaltenteilung und Einschränkung der Polizeimacht. Russell schlug einen zweiten Polizeikörper vor, der die Verteidigung der Angeklagten übernehmen, nach Beweisen für ihre Unschuld forschen und den ersten Polizeikörper kontrollieren sollte, um die Verurteilung Unschuldiger zu verhindern. Ein Geständnis dürfe nicht als Schuldbeweis gelten, um erzwungenen Geständnissen vorzubeugen.

Plausibel auch angesichts der nach wie vor zahlreichen Übergriffe von Polizeiorganen. Dabei drängt sich auch der Gedanke an heikle empirische Untersuchungen auf, etwa an den fehlgeschlagenen Versuch einer Gefängnis-Simulation der Stanford-University in den siebziger Jahren. Durch den Film "Das Experiment" ist er jetzt wieder im Gespräch.

Russell meint, dass auch die wirtschaftliche Macht in einem demokratisch organisierten Staat am besten aufgehoben sei. Bei der Behandlung des Themas Freiheit und Propaganda steht im Zentrum, für Russell selbstverständlich, die Meinungsfreiheit, die stets mit einer umfassenden öffentlichen Diskussion über verschiedene ideologische Meinungen Hand in Hand gehen sollte.

Die besten psychologischen Voraussetzungen, um der Macht Grenzen zu setzen, bieten Menschen, die zu mündigen Bürgern erzogen wurden. Bildung und Kritikfähigkeit, wozu eine gesunde Skepsis gegenüber Autoritäten gehört, sind für Russell ebenso wichtig wie ein glückliches Alltagsleben, das dazu angetan sei, Fanatismus zu verhindern. Als "Nachtisch" des Geschichtsunterrichtes schlägt er die Beschäftigung mit Zeitgeschichte und Politik vor, und zwar anhand kontroversieller Quellen, weil sich gegen Machtallüren oder Unterdrückung am besten wehren kann, wer selbständig zu denken versteht. In einer Demokratie sei wenig so nützlich wie die Fähigkeit, beim Zeitunglesen die Wahrheit zu entdecken.

MACHT Von Bertrand Russell

Übersetzung: Stephan Hermlin

Europa Verlag, Hamburg 2001

287 Seiten, geb., öS 288,-/e 20,93

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