Ein Verleger und ein Politiker erzählen

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Wie sich die Lebenslinien zweier sehr verschiedener Persönlichkeiten an einem zeitgeschichtlichen Brennpunkt schneiden.

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Wie sich die Lebenslinien zweier sehr verschiedener Persönlichkeiten an einem zeitgeschichtlichen Brennpunkt schneiden.

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Es berührt seltsam, wenn man innerhalb weniger Tage die Erinnerungen zweier Persönlichkeiten aus völlig verschiedenen Milieus liest, und wenn sich diese beiden Lebenslinien plötzlich an einem neuralgischen Punkt der Zeitgeschichte schneiden. Ob sich der Verleger Klaus Piper und der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Josef Felder überhaupt je begegnet sind? "Lesen heißt doppelt leben" heißt das erste eigene Buch des Verlegers, das er gerade noch fertigstellen konnte, aber nicht mehr sah.

Der Schnittpunkt ist die Stelle bei Piper, wo er als junger Mann mit 22 Jahren auf dem Weg zu einer Schitour in der Bernina vor der Grenze in einem Lindauer Wahllokal schnell seine Stimme für die letzte Reichstagswahl abgibt. Man schreibt den 5. März 1933 und er will "zur Mitte hin wählen, keinesfalls rechts, und heute noch, nach mehr als fünfundsechzig Jahren, bedaure ich, dass ich mich nicht entschloss, der Sozialdemokratischen Partei meine Stimme zu geben. Sie war die einzige Partei, die im Reichstag bei der Abstimmung am 24. März 1933 ... gegen das Ermächtigungsgesetz zu stimmen wagte. Die Bayerische Volkspartei ebenso wie das Zentrum und die bürgerlichen Mittelparteien stimmten dem Ermächtigungsgesetz zu und besiegelten so Hitlers Alleinherrschaft und damit alles, was daraus für Deutschland und die Welt erwachsen sollte."

Das "Gesetz über die Behebung der Not von Volk und Reich" gab Hitlers Regierung das Recht, ohne Zustimmung des Parlaments Gesetze zu erlassen, die, wie Artikel 2 ausdrücklich vorsah, von der Reichsverfassung abweichen durften, "soweit sie nicht die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche zum Gegenstand haben". Ein einmaliger Fall von Selbstentmachtung eines Parlaments mit 444 gegen die 94 Stimmen der bereits durch Verhaftungen und das Fehlen der jüdischen Mitglieder geschwächten SPD-Fraktion, deren Sitze von SA- und SS-Männern umstellt worden waren.

Gespenstischer Schnittpunkt: Das Buch des anderen Autors hat den Titel: "Warum ich nein sagte". Vom Abgeordneten Josef Felder erfahren wir, wie es damals im und vor dem Reichstag zuging, der nach dem Reichstagsbrand in der Krolloper zusammentrat. Seine Einschätzung, wie es bei einer Abstimmungsniederlage der Nazis weitergegangen wäre: "Wir wären mit Sicherheit zusammengeschlagen worden, wir wären aus dem Reichstag nicht mehr herausgekommen. Die bürgerlichen Parteien hatten Angst, wir hatten auch Angst. Wir waren auch Menschen und Familienväter."

Felder überlebte Dachau und wurde kürzlich hundert Jahre alt. Die Texte seines Erinnerungsbuches sind bei früheren Gelegenheiten entstanden. Beispielsweise die Erinnerungen an seinen schon damals widerlichen und brutalen Schullehrer Julius Streicher, der später in Nürnberg gehenkt wurde.

Die beiden Lebensbilder sind zwar sehr verschieden, ergänzen sich aber. Hier der früh zur SPD gestoßene Kleinbürgersohn, dort der humanistisch gebildete Erbe des vom Vater aufgebauten bedeutenden Verlages. Klaus Piper lässt den Leser an unzähligen Begegnungen mit den vielen bedeutenden Menschen teilhaben, deren Bücher er herausbrachte. Erzählt etwa, wie er ganz leise Kritik an der Autobiographie von Jehudi Menuhin äußerte, deren deutsche Ausgabe ihm von einem Agenten angeboten worden war, der Magnetismus fehle dem mit einem Ghostwriter geschriebenen Buch - Menuhin erfuhr es, setzte sich hin und schrieb in kürzester Zeit ganz allein seine herrliche "Unvollendete Reise" nieder.

Der auch als Zeitungsmacher zupackende sozialdemokratische Parlamentarier und der kunstsinnige Verleger, der Dachau-Häftling und der Großbürger, dem die NSDAP vielleicht nützen könnte, der aber trotzdem nicht eintritt, haben Wichtiges gemeinsam: Die demokratische und humanistische Grundhaltung, die demokratische Gesinnung, den Respekt vor fremden Überzeugungen. Zwei aufbauende Bücher, aus denen sich einiges lernen lässt.

Lesen heisst doppelt leben. Erinnerungen. Von Klaus Piper Piper Verlag, München 2000, 272 Seiten, Fotos, geb., öS 277,-/e 20,13 Warum ich nein sagte. Erinnerungen an ein langes Leben für die Politik.

Von Josef Felder, Pendo Verlag, Zürich 2000, 240 Seiten, Fotos, geb., öS 277,-/e 20,13

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