Ein von der Macht berauschtes Gehirn

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Das 20. Jahrhundert war ein Scheißjahrhundert. Auch das 21. beginnt in diesem Sinn viel versprechend. Kunststück, werden doch die Folgen dessen, was im 20. in Gang gesetzt wurde, tief ins neue hereinreichen, wenn nicht darüber hinaus. Wie angenehm, einen Teil der Verantwortung ans 19. delegieren zu können. Einer der Adressaten starb pünktlich zur Jahrhundertwende, in der Mitte des Zweinullenjahres 1900, über dessen Zugehörigkeit zum alten oder neuen Säkulum schon damals gestritten wurde.

Haben wir mit Nietzsche nun einen Wegbereiter der im 20. Jahrhundert begangenen Untaten ertappt? Wenigstens der im rechten Flügel der Erdenhölle begangenen? So gründlich wie Bernhard H. F. Taureck in seinem Buch "Nietzsche und der Faschismus" ist dieser Frage schon lang keiner mehr auf den Grund gegangen. Das ganze Nietzsche-Problem spitzt sich auf zwei Fragen zu. War er Vorläufer oder Wegbereiter? Besteht zwischen seinem Denken und den Verbrechen des Faschismus sowie dessen mörderischester Spielart, des Nationalsozialismus, eine Ursache-Wirkung-Beziehung? Zweitens: Wie steht es um die philosophische Nietzsche-Substanz, "die über Protofaschismus und Destruktivität hinausweist"? Noch ist das Problem nicht gelöst, wie wir es anstellen sollen, "beides nicht zu vermengen".

Die Schwierigkeit wird umso gravierender, je größer der Protofaschist ins Bild rückt. Diesen Protofaschismus weist Taureck messerscharf nach. In Anbetracht der Folgen, die der Bruch rechter wie linker Vordenker des 19. Jahrhunderts mit der Humanität im 20. Jahrhundert zeitigte, überwuchert der normative Propagandist der menschlichen Ungleichheit und der Sklaverei den heute wieder von allen möglichen Richtungen für sich reklamierten Philosophen. Durch sein politisches Denken wurde er zum Dichter und Denker der Richter und Henker.

Taurecks Methode, Nietzsches Nachleben in der Wissenschaft und in den Ideologien einzubeziehen, macht das Buch zu einer faszinierenden Lektüre. Er geht mit Heidegger ebenso harsch um wie mit der DDR: Dort gehörten "Nietzsche und der Faschismus ... nun einmal im Bösen zusammen wie Marx und Lenin (und Stalin) im Guten." Besonders interessant sind die Abschnitte, in denen der Autor Nietzsches zum Teil bekanntlich sehr positive Wirkung auf französische Denker referiert.

Paradoxer Platonismus Nietzsches "Wunsch, seine Sehnsucht gilt antikem Staatsverständnis: das Machtgebilde Staat soll nicht um der Macht willen existieren, sondern um gutes Leben und menschenmögliche Vollkommenheit zu ermöglichen. Staat ist als Einheit, als Verbindung von Macht und Vollkommenheitsgarantie zu denken. Wie dies nicht nur in der Praxis, sondern zunächst begrifflich-denkerisch möglich sein soll, ist schwer zu fassen. Es handelt sich im ganzen um einen paradoxen Platonismus: einen Platonismus ohne Ideenlehre, ohne absolute Wahrheit, ohne den Platonischen sonnenhaften Ursprung der Wahrheit; ohne das ewig Seiende, ohne Himmel, ohne überhimmlischen Ort der Wahrheit jenseits des Staates. Der Staat ... soll den Genius erzeugen, den begnadeten, außergewöhnlichen und unersetzbaren Menschen."

Nietzsche war als Denker keineswegs nur ein Seismograph oder gar der Warner, zu dem ihn manche gern verharmlosten. Er hat vielmehr Massenmörder und deren Mitläufer in ihrem mörderischen Wahn bestätigt und bestärkt. Das wurde noch selten so schlüssig herausgeschält. Selbst für Kurt Tucholsky war die über Protofaschismus und Destruktivität hinausweisende Substanz noch nicht so verschüttet wie nach dem Zweiten Weltkrieg, Taureck zitiert ihn ungenau, wenn auch nicht sinnstörend (hier richtiggestellt): "Was hat das Nietzsche-Archiv mit Nietzsche getrieben! Das Archiv und seine Leute sind schuld daran, dass die Weltmeinung Nietzsche für einen der deutschen Kriegsanstifter gehalten hat, zu welcher Auslegung allerdings die Verschwommenheit seiner Diktion beigetragen hat." Und, Tucholsky weiter, ebenfalls 1932: "Wer kann ihn nicht in Anspruch nehmen! Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen ... Für Deutschland und gegen Deutschland; für den Frieden und gegen den Frieden; für die Literatur und gegen die Literatur - was Sie wollen."

Bizeps aus Gips Verschwommenheit hin, Vieldeutigkeit her, Friedrich Nietzsche hat zu viel, was Faschisten und Nazis sehr gut brauchen konnten, sehr deutlich gesagt, auch wenn einiges, was er sagte, sowie dass er sich dem radikalen Antisemitismus verweigerte, den Nazis nicht in den Kram passte. In den USA wurde übrigens die Ausrottung der Indianer bereits 1904 unter Berufung auf Nietzsche gerechtfertigt: Die starken Rassen sollten und würden überleben, die niederen wie Unkraut ausgejätet. Taureck zeichnet ein differenziertes, manchen vielleicht unbequemes, wissenschaftlich abgesichertes Nietzsche-Bild.

Allzuweit entfernt ist es nicht von Tucholskys pointierter Zusammenfassung: "Er prahlt mit der Kraft, er protzt mit ihr, er stellt den Gipsabguss eines Bizeps ins Schaufenster. Geh nicht in den Laden; das Aushängeschild ist seine ganze Ware, mehr hat er nicht ... Er hat aus der Sehnsucht nach der Peitsche eine Weltanschauung gemacht. Er war für die Entfaltung von Kraft sehr empfindlich, aber er hatte keine ... Ein berauschtes Gehirn. Kein trunkenes Herz." Auch darin erkennen wir die Faschisten wieder...

Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum. Von Bernhard H. F. Taureck. Reclam Leipzig Verlag, Leipzig 2000. 304 Seiten, Tb., öS 175,- / e 12,72

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