Ein wahres Ringelspielmärchen

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Viktor Bodó ist ein Meister im Einrichten von Enklaven, die wie Vogelnester hoch oben im Welt-Baumgeäst sitzen. Dort flattern Menschen wie Gefiederwesen ein und aus und stopfen sich ihre aufgesperrten Münder mit Sprachphantasmen und zuckenden Bildimaginationen voll. Aber das wirklich Erhebende an diesen hoch oben liegenden Bühnenenklaven ist, dass sie nicht „Nicht-Orte“ sind, wie die vielen mono-funktionalen Räume der Moderne. Seine Orte sind zauberhafte Brutstätten, die beflügeln. Und die es wagen, uns ein Kopfnest zu bereiten. So war es 2007 bei Kafkas „Schloss“, seiner ersten Grazer Inszenierung, und seiner mit dem Nestroy Theaterpreis ausgezeichneten „Alice“. Auch bei seinem Handke-Kunstspiel „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“, eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2010, war es nicht anders. Und nun gibt es auch für Franz Molnárs Vorstadtlegende „Liliom“ einen Hoheitsort à la Bodó. Ganz im Sinne eines Kunstmärchens erzählt der ungarische Regisseur die Geschichte des Hutschenschleuderers, der seine Frau quält, Selbstmord begeht, nach 16 Jahren Fegefeuer für einen Tag zurückkehrt und seine letzte Chance auf einen Platz im Himmel versaut. Jan Thümer spielt diesen Grazer Liliom mit fliehender Lebenslust. Er hängt bei seinem ersten Auftritt hoch oben im zweiten Rang als Seelenmarionette mit weiß geschminktem Gesicht über den Zuschauern, und das Schauspielhaus, mit seinen zum Blinken gebrachten Saallichtern, verwandelt sich in ein fahrendes Karussell. Fast lautlos riskiert er dann das Unwiderstehliche und das Unerträgliche dieser Figur: Man sieht den jungen Liliom und auch schon den Moment, da er verfallen wird.

Momente großer Innigkeit

Man sieht den strahlenden Willen und das angewiderte Sich-gehen-Lassen einer Kippfigur. Das Dienstmädchen Julie (ungewöhnlich berührend gespielt von der ungarischen Jungschauspielerin Kata Petö) erliegt diesem Mann, weil es hingerissen ist von seiner mitleidlosen inneren Besitzlosigkeit. In Momenten großer Innigkeit darf sie dann auch ungarisch sprechen. Bar jeder Überzeichnung kämpfen Liliom und Julie um ihr bitteres Leben. Bei allen anderen hat der ungarische Regisseur nachgeholfen: Saufkumpan Ficsur (Sebastian Reiß) schleimt, Gerti Pall als Tante Hollunder sudert, Karussellbesitzerin Muskat (Steffi Krautz) hängt sich an, Freundin Marie (Sophie Hottinger) und ihr Gatte Wolf (Thomas Frank) verfetten. Letztlich aber ist Bodó mehr eingefallen als Anfang März Schottenbergs „Liliom“ am Wiener Volkstheater. Denn nach Lilioms Selbstmord bricht mit apokalyptischer Wucht (Bühne: Pascal Raich) alles Irdische auseinander. Im himmlischen Jenseits herrscht dann die nackte Parodie: Hüpfende Himmelsgehilfen befördern den Verblichenen in eine Kanaldeckelöffnung mit rötlichem Nebellicht. Wenig später spuckt ein Liftschacht Liliom als geläuterte Eintagsfliege wieder aus. Und wieder hockt er dann in Bodós märchenhaftem Weltnest mit Julie (und jetzt auch mit Andrea Wenzel als Tochter) an einem Tisch und vergeigt für alle Ewigkeit sein seliges Jenseits.

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