Religion und Werte
G anz offenkundig gibt es religiöse Menschen mit höchst problematischer Wertestruktur und nicht-religiöse Menschen, die höchste Werte konsequent vertreten - wie natürlich auch umgekehrt. Ja, es gibt in Europa sogar manifest religionsversteppte, aber dennoch gut funktionierende und wertstabile Gesellschaften.
Die christliche Religion vertritt Werte, allen voran jenen der Nächstenliebe, die Evangelien machen ihn, etwa in der Gerichtsrede (Mt 25) oder im Samaritergleichnis zum Kriterium des religiösen Heils. Nicht die Religionszugehörigkeit, sondern die Tat der Liebe in Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind im Evangelium zuletzt heilsrelevant. Das ist die zentrale Provokation der Botschaft Jesu.
Jesus in Wort und Tat nachzufolgen, und das meint christlich "religiös“ sein, ist also ohne jeden Zweifel eine Quelle von Werten. Aber weder philosophisch noch psychologisch ist es die einzig mögliche. Religiöse Menschen müssen sich von Kant sogar fragen lassen, wie viel ihre guten Taten denn noch wert seien, wenn sie diese nur um Gottes oder gar des himmlischen Lohnes willen vollbrächten. Aus katholischer Perspektive ist dies freilich schon eine etwas arg skrupulöse Frage.
Religionen sind tatsächlich mehr als "Quellen der Legitimation“. Das Christentum begründet Werte, aber es unterzieht sie auch einer eigenartigen Doppelbehandlung: Es radikalisiert sie, denn im Christentum gilt die Verpflichtung zur Nächstenliebe allen und immer. Es relativiert sie aber auch, zumindest im Blick auf die Menschen, die sie verwirklichen. Das gelingt nämlich nie wirklich ganz. Wir sind alle Sünder und brauchen Gottes Gnade. Das anzuerkennen verhindert sowohl die Verzweiflung am Scheitern von Werten wie Nächstenliebe, aber auch jenen Totalitarismus, der in ihrer gnadenlosen Einforderung lauert.
* Der Autor ist kath. Pastoraltheologe an der Universität Graz
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