Eine fast vergessene Schlagzeile

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Nur kurz sorgte der Tod zweier Afrikaner im Fahrwerkschacht eines Flugzeugs für Aufsehen. Ihr Anliegen nicht zu vergessen, fordert Ernst Schwarcz.

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Nur kurz sorgte der Tod zweier Afrikaner im Fahrwerkschacht eines Flugzeugs für Aufsehen. Ihr Anliegen nicht zu vergessen, fordert Ernst Schwarcz.

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Zwei junge Afrikaner haben ihre Leben wegen der Not ihres Volkes geopfert. Darf ihr Hilfeschrei einfach vergessen werden? Zuerst die Fakten: Auf dem Flug von Guinea nach Brüssel im vergangenen Sommer verstecken sich ein 14- und ein 15jähriger Afrikaner - Yaguine Koita und Fode Tounkara - im Fahrwerkschacht eines Flugzeuges. Obwohl sie sich in mehrere Pullover gehüllt hatten, starben sie an der extremen Kälte in 10.000 Meter Höhe. Ihre Leichen wurden nach der Landung des Flugzeuges in Brüssel entdeckt.

Man fand bei ihnen einen Bittbrief an die Regierungen Europas, in dem die beiden darum baten, "eine große und effiziente Organisation für den Fortschritt in Afrika aufzubauen". Und sie schrieben wörtlich: "Wenn Sie also sehen, daß wir uns opfern und unsere Leben aufs Spiel setzen, dann ist es, weil wir in Afrika zu sehr leiden und wir ihre Hilfe brauchen."

Die Tragödie liegt darin, daß die Durchschnittsbürger der Wohlstandswelt nur sehr wenig darüber wissen, unter welchen erbärmlichen Bedingungen der größere Teil der Weltbevölkerung lebt. Was sagen uns schon die Angaben, daß etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung (das sind vier Milliarden Menschen) unter der Armutsgrenze leben? Diese Armutsgrenze wird mit zwei Dollar (etwa 26 Schilling) Einkommen pro Kopf und Tag angenommen. Wer kann sich vorstellen mit einem solchen Betrag für Miete und alle wichtigen Ausgaben das Auslangen finden zu können?

Tiefer als die Armutsgrenze liegt noch die sogenannte Hungergrenze. Unter der müssen ein Viertel der oben erwähnten Armen, also rund eine Milliarde Menschen, leben. Sie liegt unter einem Dollar pro Kopf und Tag.

Im Gegensatz dazu leben Wohlstandsbürger in einer Scheinwelt von (aus der Sicht der Armen) fast unvorstellbarem Reichtum. Aus den Medien erfährt man wenig oder fast nichts über die Lebensumstände in den Entwicklungsländern, außer es gibt dort Katastrophen oder Kriege.

Extreme heutiger Welt Erich Fromm hat es in seinem Buch "Haben oder Sein" so beschrieben. Der moderne Mensch versucht, seine innere Leere durch vermehrten Besitz materieller Güter zu kompensieren. Zu den materiellen Gütern zählen nicht nur die alltäglichen Gebrauchsgegenstände, sondern alles, was den Symbolcharakter für Wohlstand trägt.

Fast hilflos stehen wir vor den beiden Extremen der heutigen Welt: Auf der einen Seite lebt eine eindeutige Minderheit der Menschheit gewissermaßen in Saus und Braus. Auf der anderen Seite lebt eine eindeutige Mehrheit in Elend und Not. An diesem auf weite Sicht politisch extrem gefährlichen Ungleichgewicht wird sich so lange nichts ändern, so lange Hilfeleistungen nur auf der Freiwilligkeit von Spenden beruhen und so lange alle jene Faktoren, die bisher zu der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich beigetragen haben, weiter in Kraft bleiben.

Soll eine Hilfsaktion für Afrika etwas bringen, so müßte sie gemeinsam von den Regierungen und der Zivilgesellschaft der reichen Länder kommen. Eine großzügige Hilfsaktion starten zu wollen, ohne die psychologischen Voraussetzungen für die Bereitstellung größerer finanzieller Hilfsmittel zu schaffen, erscheint jedoch aussichtslos. Zu bedenken ist vor allem, daß eine Politik der Entschuldung der armen Länder fast wichtiger ist als die Gewährung neuer finanzieller Hilfen.

Geldstrom umkehren Statistiken zeigen, daß bei fast allen armen Ländern die Rückzahlungen internationaler Kredite inklusive Zinsen um vieles höher sind, als die neuen finanziellen Hilfeleistungen. Der Geldstrom von den Armen zu den Reichen ist größer als umgekehrt.

Es bedarf also: * eines wohlüberlegten und wirksamen psychologischen Drucks der Zivilgesellschaft, um das Elend der Menschen in Afrika (und in anderen Weltteilen) nicht als von Gott gegeben und deswegen unveränderlich zu betrachten; * der Erweckung des Bewußtseins in der breiten Öffentlichkeit, daß die herrschenden Zustände in Afrika unvereinbar sind mit den Prinzipien der allgemeinen grundlegenden Menschenrechte; * eines Bewußtwerdungsprozesses der Regierungen der wohlhabenden Länder über ihre Verantwortlichkeit gegenüber den armen Ländern Afrika; * der Erschließung neuer großer Steuerquellen, um die erforderlichen Geldmittel - im Sinne des Briefes der beiden Afrikaner - für eine "große und effiziente Organisation für den Fortschritt in Afrika" aufzubringen; * der Einsicht, daß neue Geldquellen wahrscheinlich nur über eine Sondersteuer oder über einen Steueraufschlag aufgebracht werden können; * der Bereitschaft, wegen der mit der Sondersteuer verbundenen Verteuerung eine Reduktion des Luxusverbrauches in Kauf zu nehmen; * der Einschaltung der Welthandelsorganisation (WTO), damit die enormen Schwankungen der Rohstoffpreise, die jede sinnvolle Planung des Budgets der armen Länder fast unmöglich machen, auf ein Minimum reduziert werden; * einer Reduzierung der Exportabhängigkeit der armen Länder durch gesteigerte Eigenversorgung mit Lebensmitteln (Subsistenzwirtschaft).

Kann dieser Vorschlag jemals breite Akzeptanz bei der Bevölkerung finden? - Gewiß nicht, solange sich nicht der Zeitgeist ändert. Es geht letztlich um die Gewissensfrage, ob uns der Opfertod der beiden jungen Afrikaner kalt läßt, ob es uns egal ist, daß Millionen Menschen nach einem entbehrungsreichen Leben vorzeitig sterben.

Dieses neue Jahrhundert soll nicht mit den gleichen politischen und wirtschaftlichen Fehlern beginnen, die im abgelaufenen Jahrhundert zu den schwersten Katastrophen in der Geschichte geführt haben.

Der Autor ist Mitglied der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker) und Vorsitzender der Internationalen Versöhnungsbundes - Österreichischer Zweig.

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