Eine Heimatsuche zwischen Gräben und reben

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Das obersteirische Mürzsteg und das nordburgenländische Gols müssen ihre Identität beide -auf unterschiedliche Art -neu definieren. Die FPÖ will daraus Kapital schla-

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Das obersteirische Mürzsteg und das nordburgenländische Gols müssen ihre Identität beide -auf unterschiedliche Art -neu definieren. Die FPÖ will daraus Kapital schla-

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Mürzsteg in der Steiermark hat keinen Bürgermeister mehr. Trotzdem sitzt er an diesem Montagmorgen im roten Trainingsanzug an seinem Schreibtisch im Gemeindeamt. Karlheinz Mayer, ein Roter, wie sein Sportanzug. Es sind die letzten Wochen des alten SPÖ-Ortsvorstehers in seinem Büro, bald wird er es für immer schließen. Denn am 1. Jänner dieses Jahres hat Mürzsteg als Gemeinde aufgehört zu existieren. Zusammen mit drei anderen Gemeinden wurde das Dorf im Bezirk Bruck-Mürzzuschlag fusioniert. Die neue Vierer-Kommune heißt jetzt Neuberg an der Mürz. Die Landkarte wurde im Zuge der steirischen Gemeindestrukturreform neu gezeichnet: Aus insgesamt 539 Gemeinden wurden 287. Mürzsteg ist das Sorgenkind hier im Mürzer Oberland. Jahr für Jahr verliert der kleine Ort an Einwohnern, nicht einmal mehr 600 Menschen leben noch hier. 2013 zählte die Ortschaft sogar zu den acht Gemeinden mit dem größten Bevölkerungsrückgang Österreichs. Mürzsteg vergreist, die Jungen wandern ab. Es gibt keine Arbeit, die Schule schloss vor zwei Jahren ihre Pforten.

Gute sieben Kilometer weiter sitzt Peter Tautscher in seinem Büro in Neuberg, ganz offiziell. Seit März ist er Bürgermeister der neuen Patchwork-Gemeinde. Der ÖVP- Politiker, der die Koalition mit der FPÖ führt, macht sich viele Gedanken um Mürzsteg. Irgendwas muss sich ändern, doch er ist ratlos. Das einstige SPÖ-Nest inmitten der Berge und Wälder kommt nicht auf die Füße. Hohe Schulden belasten das Gemeinde konto, die Kanalsanierung war aufwendig und teuer. Immer mehr Gebäude liegen brach. Wer hier wohnt, muss pendeln. Viele nehmen den Weg bis Graz oder Wien auf sich, zwei Stunden Fahrzeit pro Richtung.

Bedrohte Sicherheit?

140 Kilometer weiter östlich liegt Gols, eine 3800-Einwohner-Gemeinde am oberen Ende des Neusiedler Sees. Hier sieht es ganz anders aus, es geht bergauf. Gols ist ein sauberer und schicker Ort. Einer, der typisch für das nördliche Burgenland ist. Schon vormittags tummeln sich Touristen im Café an der Hauptstraße. Nur der Lärm trübt die Idylle: Baumaschinen rattern, der Kirchenplatz wird saniert. Überall wird gebaut, es entstehen neue Siedlungen und Häuser.

Das Burgenland, besonders im Norden, hat eine neue Identität. Die Menschen hier sind Aufsteiger, sie sind wohlhabender geworden. Doch mit dem Reichtum kommt die Angst. Viele sehnen sich nach mehr Sicherheit. Die freiheitliche Abspaltung "Liste Burgenland" instrumentalisiert diese Sorgen im Landtagswahlkampf, indem sie das Bild einer verheerenden Sicherheitslage in der Grenzregion zeichnet -auch rund um den Neusiedler See. Eine stärkere Polizeipräsenz müsse her, fordern sie.

Bei der FPÖ klingt das ähnlich. Neun Prozent holte die Partei 2010, dieses Mal sollen es Umfragen zufolge mehr werden. In punkto Sicherheitsbedenken sind sie mit der amtierenden SPÖ auf einer Linie. Hans Niessl, SPÖ-Landeshauptmann, liebäugelt sogar mit einer möglichen rot-blauen Koalition. Die Grünen-Wahlplakate in Gols spotten: "Sind die Roten schon völlig blau?"

Fördermillionen aus den EU-Töpfen machten in den letzten zwanzig Jahren aus dem Burgenland, einem der einst ärmsten österreichischen Landstriche, eine schmucke Touristenregion. Immer mehr Menschen wollen hier leben. Es ist ein junges Image, das der Gegend anhaftet. Drei bis fünf Prozent Zuzug pro Jahr kann Gols verzeichnen. "Das ist gerade so viel, dass sich das Ortsbild nicht rasant verändert", sagt Christian Fröhlich, Leiter des Gemeindeamtes.

Auf der gelben Fassade eines Hauses steht in braunen Lettern: "Achte den Wein und in ihm die Arbeit." Insbesondere die Winzerbetriebe profitierten von den EU-Förderprogrammen: Allein 3,6 Millionen Euro aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds flossen bis 2011 in burgenländische Weinbetriebe. Gols ist heute die größte Weinbaugemeinde Österreichs, die Weinförderung hier gilt europaweit als Erfolgsmodell. Über einhundert Winzer-Familien wirtschaften im Vollbetrieb. Der Wein ist Markenzeichen und Schatzkammer der Gemeinde.

Zurück zu den steirischen Wäldern. 90 Prozent der Gemeindefläche in Mürzsteg gehören den Bundesforsten. Über 250 Forstfacharbeiter kümmerten sich hier einst um die Wälder. Dann kam die Technisierung, heute sind es nur noch zwei Angestellte. Betriebe müssten wieder her, dann gäbe es Arbeit.

Am hintersten Grabenende haben die Mürzsteger Angst, vergessen zu werden. Dort, wo man sich nicht mehr von der Politik ernstgenommen fühlt, erstarkt die FPÖ.

Viele fühlen sich verraten von der rotschwarzen "Reformpartnerschaft", die ihnen die Ortszusammenlegung aufzwang und die Identität stahl. In den meisten steirischen Ortschaften lief der Fusionsprozess freiwillig und widerstandslos ab.

Grabenkämpfe

Nicht in Mürzsteg. Ein Auto parkt vor dem Gemeindeamt, auf der Heckscheibe steht in Großbuchstaben "I bin a Grabler". Vier Worte, die den Konflikt auf den Punkt bringen. Fragt man die Mürzsteger nach der Bedeutung, recken sie stolz das Kinn hoch. "Jawohl, Grabler san mia." Im "Grabler" steckt der Graben, der sie hier im Neuberger Tal von den anderen jenseits der Mürz trennt. Die anderen, das sind die, mit denen man sich auf gar keinen Fall zusammentun wollte: Mürzzuschlag, 8800 Einwohner. "Mit Städtlern haben wir nix am Hut", sagen die Mürzsteger und schielen südwärts, dort, wo irgendwo die andere Seite liegen muss.

Altbürgermeister Mayer hatte für einen Zusammenschluss mit dem roten Mürzzuschlag plädiert. Das hätte gut gepasst, findet er, besser als mit dem schwarz-blau regierten Neuberg. Und am Ende wäre zusätzlich zur Fusions-Prämie von 200.000 Euro und der Freiwilligkeitsbelohnung von 50.000 Euro auch mehr abgefallen: Eine Million Euro, bedingt durch die höhere Einwohnerzahl, hätte man dann bekommen, munkelt man hier im Ort. Geld, das Mürzsteg eigentlich bitter nötig hat.

Doch die Mürzsteger beeindruckte das nicht. Stattdessen verhärteten sich die Fronten. Denn an einer Sache war nicht zu rütteln: Einmal Grabler, immer Grabler. Dies gipfelte schließlich in einer Gemeindeabstimmung: Mit über 90 Prozent entschied sich das Dorf gegen eine Fusion mit dem fremden Mürzzuschlag. "Unsere Grabenlösung", nicken die Mürzsteger zufrieden. Seit Januar ist sie Realität.

Versteckt hinter hohen Büschen und abgeschirmt durch ein großes Tor, erhebt sich derweil ungestört das Jagdschloss. Denn Mürzsteg ist ein Ort wunderlicher Gegensätze. Kaiser Franz Josef ließ das Anwesen Ende des 19. Jahrhunderts erbauen. Seit 1947 residiert hier, nahe der verlassenen Gebäude und leeren Geschäfte, zur jährlichen Sommerfrische das höchste Staatsoberhaupt der Republik, der jeweilig amtierende österreichische Bundespräsident. Und auch ein Kinderhotel versteckt sich im grünen Idyll.

Doch das ist nicht die einzige Überraschung, die der Ort bereithält. Mürzsteg wäre wohl noch verwaister, gäbe es nicht die Asylwerber. Statistisch machen sie fast die Hälfte der Bevölkerung aus: Zwischen 250 und 350 sind in der Altgemeinde untergebracht. Sie langweilen sich. Es gibt nichts zu tun. Zweieinhalb Stunden pro Tag dürfen sie auf dem Sportplatz Fußball spielen.

Der Afghane Sohraro Naderi, 20, hat in den letzten Monaten Deutsch gelernt, er würde gerne arbeiten. "Oder wenigstens lesen und lernen", sagt er. Doch für Bücher hat er kein Geld. Die Wartezeit auf den Asyl-Bescheid ist zäh. Auch Mohammed Achmed Siri ist erst 20 Jahre alt, er ist aus Somalia geflohen. Mohammed liebt die hügelige Landschaft, geht viel spazieren. Nach allem, was er in seiner Heimat erlebt hat, tut ihm die steirische Ruhe gut. Er versteht noch nicht, was auf den FPÖ-Plakaten steht, die überall am Wegesrand hängen.

"Fremd im eigenen Land", lautet einer der Wahlsprüche. So auffällig die blauen Plakate die Orte südlich des Semmerings dominieren, so deutlich fallen auch die Umfrage-Prognosen aus: Um 11 Prozentpunkte sollen die Rechtspopulisten bei den anstehenden steirischen Landtagswahlen zulegen. Bei den Gemeindewahlen im März wurden die "Reformpartner" SPÖ und ÖVP besonders in den Fusionsgemeinden bereits drastisch abgestraft.

Dazugehören -nicht einfach

Doch viele Mürzsteger, traditionell SPÖ-Wähler, stören diese Plakate mit den ausländerfeindlichen Botschaften. Hier herrsche ein friedliches Nebeneinander. Feindselig sei niemand, nur eben auch nicht besonders kontaktfreudig. Im Graben Fuß zu fassen sei nicht so einfach. Sohraro und Mohammed würden gerne dazugehören.

So wie Wisam Al Mohammad, 28, dem die Senioren des Altersheims in Gols fröhlich zuwinken, als sie den gutaussehenden jungen Mann sehen. Wisam floh vor Tod und Gewalt aus Syrien nach Österreich. Der studierte Biotechnologe arbeitete in Damaskus für die Atomforschung der Vereinten Nationen, jetzt ist er ehrenamtlicher Helfer im Golser Seniorenstift.

Seit vier Monaten lebt er in der aufstrebenden Tourismus-Gemeinde. In Gols sind nur 25 Asylwerber untergebracht, ihr Quartier wird von der österreichischen Asylkoordination als mangelhaft eingestuft. Generell sei die Asyl-Situation im Burgenland nicht besonders vorzeigewürdig, heißt es.

Wenn Wisam spricht, zuckt sein rechter Mundwinkel. Vielleicht ist es eine Folge seiner Flucht. Weil er nicht zum Militär eingezogen werden wollte, drohten ihm harte Strafen. Er verließ sein Land. Wisam will Gols aktiv etwas zurückgeben, bat um eine Aufgabe. Dieser positive Zugang beeindruckte den Leiter des Diakoniezentrums, Christian Göltl. "Das hatten wir in Gols noch nie", erzählt er. Inzwischen arbeiten neben Wisam noch drei andere Asylwerber, auch Akademiker, im Seniorenheim. Göltl übt täglich Deutsch mit ihnen. Für Wisam ist "Mister Christian" ein enger Freund geworden. "Wie ein großer Bruder", sagt er. Göltl liegt viel daran, dass der Asylwerber seinen positiven Bescheid bekommt. Der würde dann sein Doktorat fertig machen. Biotechnologen sind hierzulande gefragt.

Auf dem Fußballplatz in Gols kicken Asylwerber gemeinsam mit einheimischen Jugendlichen. Eine Zimmerei stellte kürzlich einen Afghanen als Lehrling an. Langsam werden Berührungsängste abgebaut, ein neues Bewusstsein geschaffen. Das Nordburgenland muss seine neue Identität noch definieren. Viele hoffen, dass es eine andere ist, als die FPÖ mit dem Schlagwort "Heimvorteil" auf ihren Plakaten suggeriert.

Karlheinz Mayer, dem letzten Mürzsteger Bürgermeister, fällt es indes sichtlich schwer, sich von seinem Arbeitsplatz zu trennen. Sein ganzes Arbeitsleben, 48 Jahre, verbrachte er im Gemeindeamt. Hier hat er seine Ausbildung gemacht, stieg zum Amtsleiter und irgendwann zum Bürgermeister auf. Zwischen den Aktenschränken und dem PC-Bildschirm, den Landschaftsfotos und seinen Erinnerungen, hängt irgendwo sein Herz. Ein paar Buchhaltungsangelegenheiten sind noch offen, dann wird er gehen. Nach ihm wird keiner mehr kommen.

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