Ilse Aichinger - © Foto: Moses, Bauer

Zum 85. von Ilse Aichinger: "Eine Hineingenommenheit ins Äußerste"

19451960198020002020

Ilse Aichinger feiert 85. Geburtstag.

19451960198020002020

Ilse Aichinger feiert 85. Geburtstag.

Werbung
Werbung
Werbung

Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind." Dieser Satz in dem 1976 erschienenen Prosaband Schlechte Wörter von Ilse Aichinger bringt ihre radikale Abkehr von jedem herkömmlichen Erzählvorgang auf den Punkt. Schon in der berühmten Spiegelgeschichte, für den sie 1952 den Preis der "Gruppe 47" erhielt, hat sie ein Leben wie im schnellen Filmrücklauf, von seinem Ende her, erzählt. Als Ilse Aichinger 1997 in der Laudatio auf den Erich-Fried-Preisträger Gernot Jonke ihre Vorbehalte gegen das mittlerweile wieder Mode gewordene Erzählen formulierte, widersprach ihr Michael Köhlmeier; Thomas Glavinic blieb es vorbehalten, sie dafür zu verunglimpfen - als hätte es eines Beweises bedurft, wie bieder heute wieder verständliche Geschichten und dicke Romane geschrieben und konsumiert werden.

"Es kommt auf die genauen Sätze an. Der erste Satz muss stimmen, vor allem auch der zweite", sagte Ilse Aichinger in einem Gespräch für den Bayerischen Rundfunk. Und jeder Text in der achtbändigen, von Richard Reichensperger herausgegebenen, Werkausgabe löst dieses Kriterium ein. Ilse Aichingers Aufruf zum Mißtrauen im Juni 1946 ist die inoffizielle Geburtsstunde der österreichischen Nachkriegsliteratur; davor schon veröffentlichte sie in der Furche den Text U. S. Eine kleine Geschichte von der Treue.

"Das Misstrauen gegen den Staat begann bei mir früh", lautet der erste Satz der Rede Ilse Aichingers zum Großen Österreichischen Staatspreis 1995. Sie wurde am 1. 11. 1921 in Wien zusammen mit ihrer heute in England lebenden Zwillingsschwester Helga geboren, und ihre erste greifbare Erinnerung ist, wie eine Greißlerin über den Ladentisch zeigte, um ihren anderen Kunden zu sagen: "Das sind Juden." Unvergesslich auch der Beamte des Wiener Wohnungsamtes, der ihr und ihrer Mutter nach Kriegsende sagte: "Schlafen'S in der Hängematt'n!" und die Zuweisung eines Ersatzes für die von den Nazis enteignete Wohnung ablehnte.

Von 1953 bis zu seinem Tod 1972 war Ilse Aichinger mit dem Schriftsteller Günter Eich verheiratet. Er hatte für sie jenes "Glück mit sich selbst", das sie sich auch für sich selbst gewünscht hätte. Doch ihr eigener Wunsch war von Kindheit an darauf gerichtet, aus der Welt verschwinden zu können. "Und ich glaube, dahin hat auch mein ganzes Schreiben gezielt, auf dieses Verschwinden."

Wer je das Glück hatte, mit Ilse Aichinger zu sprechen, der weiß, dass dazu auch sehr viel Schweigen gehört. "Als beide lange genug geschwiegen hatten, um sich ein wenig kennenzulernen", heißt es ja auch schon in ihrem einzige Roman Die größere Hoffnung (1948). Und er wird die Wandlungsfähigkeit ihres Gesichtes nicht vergessen. Stefan Moses hat es über die Jahre fotografiert und zum 85. Geburtstag im S. Fischer Verlag ein wunderbares Bilderbuch mit Fotos aus allen Lebensabschnitten herausgegeben. Es enthält auch wichtige Aichinger-Texte. Wer sich auf ihre Lektüre einlässt, wird darin das finden, was Ilse Aichinger an Georg Trakl gerühmt hat: "Seine Sprache ist seine Form der Askese. In ihr bewahrt sich, was von uns verlangt wird: Eine Hineingenommenheit ins Äußerste, die die Möglichkeit hat, sich zu Hilfe und Leuchtkraft zu wandeln. Die Offenheit allen Möglichkeiten des Endes gegenüber, die Anfänge wieder möglich macht."CH

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung