Eine künstlerische Ein-Mann-Bewegung

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Die Silbe MERZ war Signet und Programm von Kurt Schwitters, dem in München eine Ausstellung gewidmet ist.

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Die Silbe MERZ war Signet und Programm von Kurt Schwitters, dem in München eine Ausstellung gewidmet ist.

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Kurt Schwitters' Kunst und Leben waren ein lebendiges Epos", erinnerte sich der Filmkünstler Hans Richter nach 1948. "Die Kämpfe um Troja können nicht abwechslungsreicher gewesen sein als ein Tag in Schwitters' Leben. Wenn er nicht dichtete, klebte er Collagen, wenn er nicht klebte, baute er an seiner Säule, ... wärmte den Kleistertopf im Bett, ... deklamierte, zeichnete, druckte, zerschnitt Zeitschriften, empfing Freunde, verlegte MERZ, schrieb Briefe, ... entwarf Druck- und Werbesachen (für ein geregeltes Einkommen), lehrte akademisch zeichnen, malte entsetzlich schlechte Porträts, (die er liebte) und die er dann zerschnitt und stückweise in abstrakten Collagen verwandte, montierte zerbrochene Möbel in MERZ-Bilder, ... lud Freunde zu sehr sparsamen Mittagessen ein, und zwischen all diesem vergaß er nie, wo er ging und stand, Weggeworfenes aufzuheben und in seinen Taschen zu verstauen ... all das mit einer Wachsamkeit des Instinkts und des Geistes, einer Intensität, die nie nachließ."

Schwitters gehörte zu den großen Doppelbegabungen als Dichter und als bildender Künstler in der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts. 1887 in Hannover geboren, blieb er nach Studien an den Akademien in Dresden und Berlin bis zu seiner Emigration 1937 nach Norwegen seiner Heimatstadt verbunden. Von hier aus pflegte er seine Kontakte in Berlin aus einer zumindest geographischen Distanz, zum Kreis der Dadaisten und vor allem zu Herwarth Waldens Galerie "Der Sturm", wo er erstmals 1918 ausstellte. In seinem Elternhaus begann Schwitters seine künstlerische EinMann-Bewegung MERZ, nicht ohne Signal an den Berliner Dada-Kollegen Richard Hülsenbeck, der Schwitters als "Kaspar David Friedrich der dadaistischen Revolution" des "Romantizismus" bezichtigt hatte. Anti-Kunst mit politischem Bezug war Schwitters' Sache nicht, er suchte nach neuen gestalterischen Mitteln in einer Zeit, als nach dem Krieg alles in Scherben lag, diese wieder "zusammenzusetzen".

Doppelbegabung Er verstand sich als abstrakter Maler, der nicht müde wurde zu vermitteln, dass Kunst Gleichgewicht der Formen sei. MERZ, das bedeute die "Zusammenfassung aller erdenklichen Materialien für künstlerische Zwecke und technisch die prinzipiell gleiche Wertung der einzelnen Materialien" (1919). Der Zufälligkeit der aufgesammelten Papierschnitzel und banalen Dinge des Alltags setzt er eine spielend-ordnende Kraft entgegen, die formbewusst alle Materialien in eine Komposition mit eigener Gesetzmäßigkeit einbindet. In den großen Merzbildern um 1919 bis 1923 gelang ihm die großartige Synthese aus expressionistischem, kubo-futuristischem Formengut und profanem Materialkult der Dadaisten zu einem eigenen Kosmos. Entsprechende Einflüsse der Konstruktivisten spiegeln seine Collagen in einer Phase des Übergangs, dem schließlich eine erneute Hinwendung zu einer mehr expressiven Formensprache mit deutlichem Bezug zur Natur in den Jahren der Isolation im Exil folgt. In der späten Assemblage "Ohne Titel (sehr dunkles Bild)" (1940) schweben wie leuchtende Gestirne drei Formen aus Blech - Scheibe, Quadrat und Trapez - vor einem tiefgründig blauen Hintergrund, der unendliche Weiten verspricht und auf dem ein heller Farbfleck wie eine Sternschnuppe aufzusteigen scheint - ein Spätwerk mit kühlem Pathos, das auf sein wunderbares "Sternenbild" von 1929 Bezug nimmt.

Die Silbe MERZ - einem Papierstreifen mit Anzeige der Kommerzbank entnommen - wird Signet und Programm zugleich, unter das Schwitters die Gesamtheit seines Schaffens und sich selbst stellt. Neben den Merzbildern, den -gedichten, -abenden, der Merzbühne, der -werbezentrale und der Zeitschrift MERZ begann er seit 1923 aus dem Atelier seinen Merzbau (1943 zerstört) zu entwickeln, den er 1937 unvollendet zurücklassen musste: eine über drei Etagen des Hauses ausgreifende, begehbare Raumplastik mit namentlich bezeichneten, kleinen Grotten, verwinkelten, tabernakelähnlichen Vitrinen, stalaktitähnlichem Überbau, im Zustand ständiger Veränderung, ein "work in progress", in dem Malerei, Assemblage, Skulptur und Architektur verschmolzen. Das Atelier als Kunstwerk, Lebens- und Arbeitsraum, als Eremitage für den Künstler. Ein zweiter Merzbau entstand 1937 nahe Oslo (1951 verbrannt), eine dritte Version begann Schwitters kurz vor seinem Tod 1948 in England, wohin er 1940 fliehen musste.

Eher wiederentdeckt "Aller Anfang ist Merz - Von Kurt Schwitters bis heute" ist der Titel einer Ausstellung im Haus der Kunst in München. Die umfangreiche Präsentation will Retrospektive und Themenausstellung zugleich sein; sie bindet das Frühwerk, die zum Teil problematischen späten Landschaften, sowie Bildwerke mit ein, thematisiert aber vorrangig Schwitters' innovatives Collagen-Werk, dem auch die bisher kaum bekannten so genannten Merzzeichnungen zuzurechnen sind.

Schwitters' Kontakte in die USA seit den zwanziger Jahren (unter anderem zu Marcel Duchamp) bewirkten, dass er dort präsent war und blieb; nach dem Krieg wurden seine Werke einem größeren Publikum vermittelt durch Robert Motherwell, dessen "Mallarme's Swan" (1944) zu sehen ist. Die Folgen von Schwitters' Materialvereinnahme für die Kunst reichen bis in die Gegenwart. In Europa freilich bedeutete die Auseinandersetzung mit Schwitters in den fünfziger Jahren eher eine Wiederentdeckung.

Bis 27. Mai

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