Schwarze Adoptivkinder Gertraud Klemm - © Foto: Privat

Eine Mutter wie keine andere

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In ihrem neuen Roman "Muttergehäuse" erzählt Gertraud Klemm von Unfruchtbarkeit, von den Verheißungen der Reproduktionsmedizin und vom Hürdenlauf zur Auslandsadoption. DIE FURCHE bringt vorab Auszüge einzelner Kapitel.

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In ihrem neuen Roman "Muttergehäuse" erzählt Gertraud Klemm von Unfruchtbarkeit, von den Verheißungen der Reproduktionsmedizin und vom Hürdenlauf zur Auslandsadoption. DIE FURCHE bringt vorab Auszüge einzelner Kapitel.

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Mit 33 habe ich zum ersten Mal in meinem Leben nicht verhütet, in einem Schiurlaub, nach einem Gespräch, in dem wir darin übereinkamen, dass es Zeit wurde. Worauf warten? Sich nicht fortzupflanzen, kommt überhaupt nicht in Frage! Es ist eine Art genetischer Juckreiz. Die komplette Familie! Das vorbestimmte Glück! Der Sinn des Lebens. Mit 33 verheiratet zu sein und das Kinderkriegen noch länger hinauszuzögern, heißt: sich gegen eine biografische Schwerkraft zu wehren.

Der vermeintliche Zeugungsakt fühlte sich ungeheuerlich an. Schicksalsträchtig, richtig. Ich war nie unvorsichtig davor. Bin ich zu vernünftig gewesen? Oder schon spröde? War ich nie geil genug, ein Risiko einzugehen, so wie die anderen, die dauernd zitterten, weil die Regel nicht und nicht kam? Dieses erste Nicht-Verhüten kostete mich in dieser Nacht den Schlaf. Alleine schlich ich durch die Ferienwohnung und trank Tee. Ich stellte mir vor, wie das Leben jetzt in mir einschlagen würde wie ein Komet. Falsch. Wie ein Wunder. Ich öffnete die Balkontür und sah in die verschneite Nacht. Falsch. Wie ein Plan, den ich in den letzten 20 Jahren verhindert habe. Der ganz normale Kreislauf des Lebens. Ich schloss die Balkontür und setzte mich im Dunkeln an den Küchentisch. Ich musste den Drang unterdrücken, den Mann aufzuwecken, wachzuschütteln, fest, an den Schultern, ihn in die Pflicht zu nehmen, ihm meine Aufregung aufzuzwingen, sie mit mir zu teilen.

Wach auf, du Ignorant! Wie kann man nur schlafen, wenn gerade ein Kind entsteht? Bist du nicht neugierig, wie es aussehen wird? Wird es ein Mädchen oder ein Bub werden? Wessen Augenfarbe wird das Kind bekommen? Wie stehen wir die nächsten neun Monate durch, ohne vor Ungeduld zu platzen?

Kein Kind ist keine Option. Adoption ist keine Option. Es muss das eigene sein, das bekannte, das selbst gemachte.

Die Zeit läuft. Schnell Augen zu und durch, dachte ich. Alles Übrige wird ohnehin das Leben für dich entscheiden, die Gene, Mutter Natur, usw. Dachte ich. Der Schlaf kam und zwei Wochen später die Regel. Der Frühling kommt, der Mai kommt, das Maibaumaufstellen, die Hochzeiten, die Geburten, die Regel kommt dazwischen. Hoffnung ist etwas Labiles. [...] Weit und breit nur süße Hoffnung. Negative Gefühle sind fruchtschädigend! Niemand ist zornig oder traurig wie ich. Kein Kind ist keine Option. Adoption ist keine Option. Es muss das eigene sein, das bekannte, das selbst gemachte. Ärzte helfen einem, es selbst zu machen. Die Fortpflanzungsmedizin übernimmt dort, wo Mutter Natur keine Lust mehr hat. [...]

Zu Hause scrolle ich die Homepage auf und ab. Glückliche Eltern, wohlgeratene Fortpflanzungsprodukte, keltische Fruchtbarkeitsrunen an den Wänden der Behandlungsräume. Tortendiagramme. Preislisten mit Positionen. Einmalige Einfriergebühr Embryonen: 280 €. Jährliche Lagerungsgebühr Embryonen: 308 €. Mietgebühren für Embryonen? Assisted Hatching, steht da. Assistiertes Schlüpfen. Embryo-Kleber. Einnistungsspülung. Polkörperdiagnostik, Kryotransfer.

Nein, beginnt es zu hämmern. Nicht mit mir. [...] Adoptieren heißt: sich erklären. Das ist der erste Schritt. Es ist doch logisch, erkläre ich. Da gibt es Kinder, die haben keine Eltern und da gibt es Eltern, die haben keine Kinder. Ja, klar, höre ich. Aber was, wenn? Und wie? Und was? Und von wo? Und was kostet das? Jetzt habe ich eine Version, die mit fünf Sätzen alle Fragen beantwortet. Brav sage ich meinen Text auf. Adoptieren heißt eben: anders sein. Die Brust aufknöpfen und es allen zeigen und sagen. Die Laden aus dem Bauch herausziehen und alle dürfen hineinschnüffeln. Adoptieren heißt auch: bewundert werden. Die Bewunderung kleben sie uns ungefragt auf. Bald glänzen wir klebrig rot wie kandierte Äpfel. [...]

Es ist nicht dasselbe. Es ist nicht wie schwanger sein. Es ist wider die Natur. Alle haben Zweifel, weil die Auslandsadoption nicht die Norm ist. Die Norm ist: Mann und Frau machen ein Kind, das nach neun Monaten gesund schlüpft und von Eltern, die unfehlbar sind, liebevoll und ordentlich aufgezogen wird.

Jede Afrikanerin in diesem Land passt besser zu dem Kind als ich, denke ich. Unsere Häute sind Morgen und Abend.

Ich bin von Heiligen umzingelt, die das Leben bejubeln. Natürlich kann auch etwas schiefgehen, wenn man seine Kinder "normal" bekommt. Aber man ist guter Hoffnung und sieht nur die Vorderseite. Ich sehe, was alles schiefgeht. Ich sehe Kinder mit kariesschwarzen Zähnen. Ich sehe saufende Väter und Mütter, die ihre Kinder vernachlässigen. Ich sehe Kinder, die weinen, weil ihre Mütter sie anschreien und am Arm reißen. Ich sehe Väter, die lieber Söhne gehabt hätten und ihre Töchter verachten. [...] Ein Anruf. Man hat zehn Tage, um alles vorzubereiten, das man sich nicht vorzubereiten getraut hat. [...]

Im Waisenhaus drückt mir die große, dicke Zulufrau das Kind in die Arme. Now you try, sagt sie. Ich kann es halten, ich kann es wickeln, ich kann Fläschchen geben. Die Zulufrau lächelt zufrieden und nickt. Here you go! Es ist fast fünf Monate alt. Es ist viel größer, als ich dachte. Es ist schwer. Es hat glänzende Lippen und anthrazitfarbene Augen. Sein Blick ist so erwachsen. Jede Afrikanerin in diesem Land passt besser zu dem Kind als ich, denke ich. Unsere Häute sind Morgen und Abend. Meine Arme wachsen um das Kind herum. Ich werde mutiger und gierig. [...] Es rudert mit den Armen. Es gurrt. Es mag hohe Stimmen und das Lied "Der Kuckuck und der Esel". Es mag Englisch. Es weint nicht, wenn ich es aus der Hand gebe. Nicht, wenn ich aus dem Zimmer gehe. Nicht, wenn ich wegfahre.

Es legt nicht seinen Kopf auf die Schulter, wenn ich es hochnehme, sondern es sieht mich an. Abschätzig, meinen die einen. Allwissend, meinen die anderen. Es erkennt alles wieder, sagt eine. Das Kind schafft es, dass jeder eine Meinung hat. Um wach zu bleiben, schüttelt es den Kopf, schmeißt den Schlaf weit von sich. Alles, was ich sehe, ist: Es ist nicht wie andere Kinder. Das ist mir ganz recht. Ich bin auch eine Mutter wie keine andere. Wir haben beide auf dem Weg zum Elternhaben und Kindhaben einen Umweg nehmen müssen. Dort treffen wir einander und können uns ansehen und annähern. [...]

Das Foto von der ersten Mutter sehe ich mir oft an. Ich würde ihr gerne einen Brief schreiben, ich würde sie gerne aus dem Schatten holen. Danke würde ich gerne sagen, Fotos schicken von dem wunderschönen, gesunden Kind, dem es sichtlich gut geht. Ich stelle mir vor, wie das sein muss: Phantomschmerz, taubes Hoffen, Starren in den afrikanischen Himmel: Ich weiß, ich werde es mir niemals vorstellen können. [...]

Adoptieren heißt: bewundert werden, auch noch beim zweiten Kind. Der doppelten Großherzigkeit bezichtigt werden. Als wäre da kein Funken Egoismus. Als wäre eine Adoption nichts Eigennütziges. Wenn sie sagen: Das bewundere ich, möchte ich am liebsten schreien: Ich wollte Kinder, ihr Trottel! Genau wie alle anderen auch. Darf ich das nicht? Muss ich die Welt retten wollen, nur weil ich zwei schwarze Kinder adoptiere? [...] Wir Adoptiveltern sind gut abgerichtet. Leiblichkeit ist alles: Gene, Herkunft, Biografie. Muttererde, Vaterland, Blutsbande. Wir verstehen ja eh. Das haben sie uns in den Kursen eingebläut. Blut ist Blut, und Papier ist Papier. Da können wir nicht mithalten. [...]

Unser Antrag auf ein zweites Kind verlässt das Land. Wir errechnen Möglichkeiten, optimale Altersabstände, wir puzzeln mit unserer Zukunft. Wir werden anfangs sehr zuversichtlich sein und noch nicht wissen, dass es Jahre dauern wird, bis wir ein zweites Kind bekommen werden, weil Wahlen in verschiedenen Ländern, Umzüge, Missverständnisse und behördliche Befindlichkeiten dazwischen kommen werden. Vielleicht wird unser Dossier hinter einen Schreibtisch gefallen sein. Irgendwann werden die Gründe für die Verzögerungen ausgehen, und es wird einfach keinen Grund, keine Erklärung mehr geben.

Der optimale Abstand zwischen den beiden Kindern wird sich vergrößern, und unser Vorstellungsvermögen über unsere Familie wird mitwachsen, bald werden es vier, fünf Jahre Altersabstand sein, die wir uns ganz gut vorstellen können: Unsere Geduld wird gedehnt werden wie eine Haut, und viel Ungeplantes, Wunderbares wird hineinpassen -ein neues Haus, ein neues Leben, eine neue Besonnenheit. Nur die Verzweiflung über das Gefälle zwischen Kinderwünschen und Kinderkriegen wird die alte bleiben, haargenau so wie beim ersten Kind.

Buch

Muttergehäuse

Von Gertraud Klemm.
Kremeyr & Scheriau 2016.
155 Seiten, gebunden, € 19,90.

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