Eine Parabel über die Gleichgültigkeit

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Der Burgtheater-Eröffnungsreigen mit zwei Uraufführungen: Das Akademietheater zeigt „Der goldene Drache“ von Roland Schimmelpfennig, im Kasino ist „Life and Times“ des Nature Theater of Oklahoma zu sehen.

Das jüngste Stück des 1967 in Göttingen geborenen Vielschreibers Roland Schimmelpfennnig spielt in einem einzigen Haus. In der Küche des Asia-Restaurants „Der Goldene Drache“ versuchen vier Asiaten ihrem sich unter Schmerzen windenden Kollegen einen kariösen Zahn zu ziehen. Unbeholfen und wenig zimperlich fühlen sie dem jungen Chinesen zunächst mit einem Essstäbchen auf den Zahn, um alsbald den endlich identifizierten schlechten Zahn mittels Rohrzange zu entfernen. Auf fachärztliche Hilfe kann der Gemarterte ebenso wenig hoffen – er ist illegal im Lande – wie auf das Mitgefühl seiner Kollegen. So kommt es, wie es kommen muss: Der Namenlose wird die Tortur nicht überleben und am Ende unsentimental in einen Teppich gewickelt und im Fluss versenkt.

Unterbrochen wird das fast zweistündige Martyrium durch eingeschobene Szenen aus dem Vorderen des Restaurants, wo zwei Stewardessen, gerade von einem Langstreckenflug zurückgekehrt, einen Imbiss zu sich nehmen, und durch Szenen aus den Wohnungen über dem Restaurant. Da spielen sich lauter kleine Dramen ab: Der „Mann mit dem gestreiften Hemd“ wird gerade von seiner Frau verlassen, beim jungen Paar wird das Mädchen ungewollt schwanger, der alte Mann kann nicht akzeptieren alt zu werden, beim Lebensmittelhändler, der eigentlich ein Zuhälter ist, wird eine junge Chinesin (sie ist die Schwester, die der sterbende Koch einst vergeblich zu suchen aufgebrochen ist) bei einem Saufgelage fast beiläufig zugrunde gevögelt.

Schimmelpfennigs Stück ist aber nur vordergründig ein Sozialdrama über die Ausbeutung rechtloser Arbeitsmigranten, vielmehr eine Parabel über die Gleichgültigkeit der Welt. Damit der Zuschauer das geschilderte Elend aber nicht nur einfach zur Kenntnis nimmt, sondern sein Mitgefühl aktiviert wird, greift Schimmelpfennig zu einem epischen Trick. Auf der von Goschs Bühnenbildner Johannes Schütz ganz in Weiß gehaltenen Bühne sitzen die fünf Schauspieler (Christiane von Poelnitz, Barbara Petritsch, Johann Adam Oest, Falk Rockstroh und Phillipp Hauß) auf Stühlen im Hintergrund und schlüpfen mittels einfacher Requisiten in nicht weniger als 17 Rollen, wobei die gegen die Logik besetzt sind. Indem die älteren Männer junge Frauen spielen, die Frauen Knaben und alte Männer mimen, vermischen sich Geschlechter, Alter und Schicksale. Dieses verfremdende Verfahren zeigt, wie eigentlich alle zusammenhängen, wie ähnlich und wie fern wir einander gleichzeitig sind. „Der goldene Drache“ ist ein ebenso komisches wie bedrückendes Stück über den Gefühlsautismus unserer Welt, wo sich die Lebensdramen in der unmittelbaren Nachbarschaft ereignen, ohne dass wir jemals davon Notiz nähmen.

Aus alt wird neu

Ähnliche, wenn auch gänzlich andersartige konzeptuelle Strenge herrscht bei dem in New York ansässigen Nature Theater of Oklahoma. Zur Besonderheit der künstlerischen Arbeit des Regieduos Kelly Copper und Pavol Liska gehört, dass sie auf vorgefundenes Material zurückgreifen, es neu kontextualisieren, indem sie es mit anderem, meist gegenläufigem Material kombinieren. In „Life and Times“ wird die Alltagsgeschichte einer 34-jährigen Amerikanerin erzählt, die Copper/ Liska aus einem Telefongespräch transkribiert haben. In der Form eines Musicals wird der gänzlich ungekürzte, undramatische Text mit allen Wiederholungen, Stotterern, Fehlern, Pausen usw. auf sechs Darsteller aufgeteilt gesungen, wobei diese dazu allerlei Bewegungen – am auffälligsten ein merkwürdiges mit beiden Beinen Wippen – auszuführen haben. Die Choreografie ist den Massenspektakeln der sozialistischen Regimes entlehnt, die Pavel Liska aus seiner slowakischen Jugend kennt. Durch die Kombination der epischen Textmassen mit den Minitänzen entsteht eine irritierende Künstlichkeit, deren Ziel es ist, die Routine des Spiels wie auch der Interpretation zu unterlaufen. Wie Schimmelpfennig verfolgt auch das Natur Theater of Oklahoma die Aktivierung des Publikums, indem es andere Lesarten erzeugt, die durch den Zuschauer erst gedeutet werden müssen.

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