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"Im februar 1919 gibt es erste wahlen. die aufgaben der regierung sind überbordend. das volk friert, hungert, und es grassiert die 'spanische grippe'."

Am 21. Oktober hat sich die "Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich" gegründet -und am 30. Oktober eine Regierung mit dem Sozialdemokraten Karl Renner als Staatskanzler bestellt. Unter dem Eindruck von Woodrow Wilsons "Selbstbestimmungsrecht der Völker" meldet sie sich zwar bei diesem US-Präsidenten an, stellt sich beim eigenen Kaiser dagegen gar nicht mehr vor. Der hat inzwischen seine eigene, letzte, Regierung mit dem Völkerrechtler Heinrich Lammasch an der Spitze ernannt, der nur die Liquidation des Habsburgerreichs übrig bleibt.

In den Wiener Kasernen sind Truppen stationiert, die sich mittlerweile "Volkswehr" des Staatsrates nennen. Sie haben intern Soldatenräte gewählt. Die vor wenigen Tagen gegründete kommunistische Partei Deutschösterreichs KPDÖ hat die Truppe mit Agenten infiltriert, die eine "Rote Garde" bilden. Russland lässt grüßen

Wichtig ist Renner und seiner Regierung, dass einerseits Kaiser Karl den Weg freigemacht hat, und zum anderen, die drohende kommunistische Revolution zu verhindern. Dazu braucht es zweierlei: die Ausrufung der Republik und den Anschluss an Deutschland.

Dafür stimmen im Staatsrat Deutschnationale, Sozialdemokraten und die meisten Christlichsozialen. Bedenken melden vorerst lediglich vier Christlichsoziale an, die eigentlich für die Monarchie und gegen den Anschluss an ein womöglich rotes Deutschland sind. Unter ihnen ist der spätere (1928-1938) Bundespräsident Wilhelm Miklas.

Am Abend des 11. November stirbt Viktor Adler, der Gründer der Sozialdemokratischen Partei. Noch in seinen letzten Stunden hat er in einer Rede vor der Nationalversammlung den Fall der Monarchie als "Teilerscheinung des allgemeinen Sieges der Demokratie" bezeichnet und klargemacht, was seine Definition von Demokratie ist, nämlich: "auf den Trümmern der kapitalistischen Weltordnung den Sozialismus aufzurichten".

Am nächsten Tag, dem 12. November, tritt im Parlament das Abgeordnetenhaus der österreichischen Reichshälfte zusammen -oder besser gesagt, was davon noch übrig ist. Nach einer Gedenkminute für den Kollegen Adler wird die Sitzung geschlossen. Die letzte Institution der Monarchie hat sich abgeschafft.

TumulT und ReTTung

Während sich draußen auf der Ringstraße vor dem Parlament die Wiener zur groß angekündigten Ausrufungszeremonie der Republik einfinden, gehen die gleichen deutsch-österreichischen Abgeordneten wie vorher in einen anderen Plenarsaal -diesmal zur Nationalversammlung. Staatskanzler Renner fordert in seiner Rede neben dem Anschluss an Deutschland das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien, die seit wenigen Tagen wider Willen in der neu gegründeten Tschecho-Slowakei leben, und schließt mit den Worten: "Heil unserem deutschen Volk! Heil Österreich!"

Ohne Debatte wird das Gesetz über die Staats-und Regierungsform einstimmig angenommen, auch von den Christlichsozialen. Miklas wird dann beantragen, dass die Staatsfarben nach dem Babenbergerwappen Rot-Weiß-Rot werden, und Renner setzt sich mit Schwarz-Rot-Gold als Wappenfarben durch, der Trikolore der alten Burschenschaft und den Freiheitsfarben der 1848er-Revolution. Das schwarz-rot-goldene Farbmuster findet sich bis heute im österreichischen Bundeswappen wieder, dessen schwarzer Adler neben dem rot-weiß-roten Bindenschild eine rote Zunge hat und die goldenen Attribute Hammer und Sichel in den Klauen hält.

Um vier Uhr nachmittags treten die Abgeordneten auf die Parlamentstrampe, und einer der drei Präsidenten der Nationalversammlung, der deutsch-nationale Franz Dinghofer, lässt die rot-weiß-roten Fahnen aufziehen. Es lebe die Republik!

Doch, o Schreck! Unter Jubel-wie Buhrufen reißen Rotgardisten die weißen Streifen aus den Fahnen und hissen deren Reste als rote Fahnen! Gleich in der Geburtsstunde des neuen Staates haben die Kommunisten seine Symbole geschändet.

Trotz Tumulten unter den rund 200.000 bis 300.000 Zuschauern spricht nun Karl Renner, nach ihm Karl Seitz, der Nachfolger Adlers als Parteichef der SDAP.

Danach wollen die Abgeordneten zurück ins Parlament, doch die Rotgardisten drängen ihnen nach. Seitz kann ihnen das schwere eiserne Gittertor vor der Nase zuschlagen. Wütend werfen die bewaffneten Kommunisten Fensterscheiben ein und geben Schüsse ins Innere des Gebäudes ab. Panik unter den Zuschauern, es gibt Tote und Verletzte. Die Kommunisten umstellen das Parlament, werden aber nach einer Stunde Verhandlung mit den Abgeordneten von aufziehenden Volkswehreinheiten verscheucht. Der linksextreme Putsch ist misslungen, Rotgardisten, die die Zeitungsredaktion der Neuen Freien Presse besetzt hielten, wurden ebenso vertrieben wie jene, die einen Sturm auf die christlichsoziale Reichspost vor hatten.

Die meisten Österreicher wissen spätestens ab diesem Zeitpunkt, was sie von den Kommunisten zu halten haben, die im Frühjahr 1919 in Wien noch zwei weitere Putschversuche unternehmen. Das und die Nachrichten von der Gewaltherrschaft Lenins in Russland und der Ukraine (er wird im Winter 1921/22 fünf Millionen Bauern absichtlich verhungern lassen) und von den brutalen Rätediktaturen der Kommunisten 1919 in München und in Budapest sind seither der Garant für eine mehrheitlich antikommunistische Einstellung des österreichischen Volkes.

SCHWIMMKURS IM EISWASSER

Im Februar 1919 gibt es erste Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung, die die Sozialdemokraten zur stärksten Partei machen. Erstmals dürfen auch Frauen wählen. Die Aufgaben der Koalitionsregierung sind überbordend. Das Volk friert, hungert, und es grassiert die mörderische "Spanische Grippe". Die Republik absolviert einen Schwimmkurs im Eiswasser.

Welche Republik überhaupt? Wo sind ihre Grenzen, wo ihr Staatsgebiet? Nach dem Ende der 640 Jahre währenden Herrschaft Habsburgs ist Österreich de facto so sehr geschrumpft, dass dem Juristen Heinrich Lammasch gar in den Sinn kommt, es "norische Republik" zu nennen, scheint es doch fast auf das Gebiet der alten römischen Provinz Noricum reduziert zu sein; tschechische Truppen stehen in Deutsch-Böhmen und -Mähren, italienische in Südtirol und jugoslawische in Kärnten und der Steiermark. Die Reise Österreichs in eine ungewisse Zukunft hat begonnen, und nichts deutet darauf hin, dass das bitterarme, kleine Land nach 1945 eine Erfolgsgeschichte schreiben wird

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