"Eingewebt in ein sprachliches Wirken"

Werbung
Werbung
Werbung

Vertlieb Swinden, Hilfskraft an einem Literaturinstitut, hat ein Problem: Sein erstes persönliches Treffen mit Philipp Artner wird nicht stattfinden können, denn dieser ist soeben bei einer Gasexplosion ums Leben gekommen. Vertlieb kommt Minuten später dazu und registriert mit Entsetzen, wie das als Vorlass in Aussicht gestellte Romanmanuskript Artners in Form angekohlter Papierfragmente auf ihn herabstiebt ...

Roth-Lesern ist das Gebäude am Heumarkt, in dem Artner in dem Moment zu Staub pulverisiert wird, "als er gedacht hatte, er verstehe nichts und habe vermutlich nie etwas verstanden", aus dem Prolog zu "Die Stadt" als Wohnhaus Roths bekannt. Das sind bei Weitem nicht die einzigen Parallelen zum realen Autor, und dennoch wäre es ein Irrweg, Autobiografisches und Fiktives trennen zu wollen, denn wie in einem doppelt belichteten Film kommt es Roth gerade auf diese wechselseitigen Erhellungen und Verdunklungen an.

Der Coup, die Hauptfigur nach den ersten 70 Seiten sterben zu lassen, bildet das Setting einer existenziellen Versuchsanordnung für die Suche nach Wahrheit an den Grenzen des Lebens, wobei "Wahrheit" stark vom jeweiligen Standpunkt abhängig ist, den die Figuren in Bezug auf Philipp Artner einnehmen. Dass diese Personen zueinander noch in komplizierten sexuellen Verbindungen stehen, macht die Sache nicht einfacher, doch ist die Wirklichkeit laut Artner ohnehin kein "logischer oder psychologischer Prozess [...], sondern ein zufälliges Gemisch aus Sichtbarem und Unsichtbarem".

Im Bann des Autors

Philipp erscheint zu Beginn als gespaltene Persönlichkeit, wofür das Doppelleben mit Ehefrau in der Stadt und der Geliebten nebst gemeinsamem Sohn am Land deutlichster Ausdruck ist. Artner leidet unter seinem Stottern und mit seiner Gesundheit steht es nicht zum Besten, außerdem fühlt er sich von Schreibblockaden bedroht. Offensichtlich wollte er mit seinem jüngsten Roman ein Gegenstück zu seinem bisher von Wahn und Gewalt geprägten Werk schaffen, wozu er nun die "geheime Sprache der Natur" studiert, die er wie fremde Schriftzeichen zu dechiffrieren versucht: "Er fühlte sich wohl bei dem Gedanken, in ein permanent sprachliches Wirken eingewebt zu sein wie in einen Kokon."

Das zweite Kapitel stellt -bezeichnenderweise in Ich-Form -Vertlieb Swinden in den Mittelpunkt, der ein Jahr nach Philipps Tod von der Witwe die Erlaubnis erhält, in Philipps "geheimem Haus" in der Südsteiermark nach dem verschollenen Roman zu suchen. Vertlieb schleicht sich in das Vertrauen von Pia Karner, Artners Geliebte, ein und beginnt eine sexuelle Beziehung mit ihr. Der zur Paranoia neigende Vertlieb gerät auf dieser nicht uneigennützigen Mission zunehmend in den Bann des Autors, während sich rundherum bedrohliche Ereignisse häufen; bald findet sich Vertlieb in einen verwirrenden Kriminalfall um ermordete tschetschenische Flüchtlinge verstrickt ...

Ein völlig anderer Philipp offenbart sich in der Spiegelung durch die weiblichen Romanfiguren: Während die Ehefrau Doris lange von Philipps Innenwelt und seinem geheimen Leben ausgeschlossen war, standen beide doch in einer starken gegenseitigen Abhängigkeit. Doris schätzt Philipps Werk, ohne es zu lieben. Erst gegen Ende seines Lebens scheint Philipp etwas von Doris' Weltsicht, in der Schöpfung nicht das Abgründige, sondern die einzigartige Schönheit zu sehen, zögerlich zu übernehmen. Eine Japan-Reise auf Artners Spuren gerät Doris zunehmend zur Selbstsuche und Philipp verschwindet 15 Jahre nach seinem Tod endgültig aus ihrem Leben. Aber auch Pia kann sich von Philipp emanzipieren, indem sie der im wahrsten Sinne des Wortes vergifteten Atmosphäre des Dorfes entflieht.

Artners Sohn Gabriel führt in eine als dystopisch skizzierte Zukunft. Gabriel erfuhr als Kind die Anteil nehmende Zuwendung seines Vaters, der in ihn auch die Liebe zur Literatur gepflanzt hat. Insbesondere "Moby Dick" ist zu seinem Lebensbuch geworden, wobei ihn mit Quiqueg die Gabe zur Hellsichtigkeit verbindet, die Gabriel im Vorfeld epileptischer Anfälle erlebt. Mittlerweile ist Gabriel gefragter Schauspieler und reist an die Orte seiner Kindheit: Noch einschneidender als die irritierenden Gewaltexzesse um die Tschetschenenmorde war für ihn das durch einen Schlaganfall verursachte plötzliche Verstummen der Großmutter. Innerlich ist Gabriel ein brüchiger Charakter "ohne festes Ich" geblieben. Das Theater hat ihm zwar eine zweite, attraktivere Wirklichkeit eröffnet, doch ist er der Überzeugung, dass die so genannte Wirklichkeit ohnehin nur eine andere Form des Träumens ist.

Beklemmende Welt

Mit "Grundriss eines Rätsels" hat der Autor wieder einen typischen Roth-Roman vorgelegt, und es wäre nicht Roth, würde das im Titel genannte Rätsel gelöst. Penibel recherchiert und mit fotografischer Genauigkeit entwirft er eine beklemmende Welt, in der alles bedeutungsvoll miteinander in Zusammenhang zu stehen scheint und leitmotivisch wie symbolisch mitunter auch etwas überkonnotiert ist (so leitet sich die Namensgebung vieler Nebenfiguren aus dem hebräischen Alphabet her, beginnend beim Papagei Aleph über den Pfarrer Resch bis hin zum Hund Taw).

Das poetologische Konzept zeigt sich vielleicht am klarsten in einer gegen Ende eingeschobenen Episode, in welcher der jugendliche Philipp einen Augenzeugen des Einsturzes des Campanile von San Marco kennen lernt, dessen Lehrherr die weit verbreiteten Fotomontagen dieses Ereignisses hergestellt hat: "'Nicht Fälschungen', sagte er,'Verbesserungen ...' Er habe nur die Staubwolke auf der Fotografie hinzugefügt und die Sprünge deutlicher sichtbar gemacht. [...] 'Nein', fuhr mein Lehrherr damals schwer atmend fort: 'Es war alles genauso wie auf der Fotografie!'"

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung