Endspurt bis zum Jahresende

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Heiße Debatten über die Osterweiterung. Aber was geschieht da? Wann wer unter welchen Bedingungen aufgenommen wird, im folgenden Beitrag.

Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks klopfen die Länder Mittel- und Osteuropas laut und vernehmlich an die Türe der Europäischen Union. Brüssels Strategie ist klar: Noch vor den nächsten Europawahlen - also vor dem Juni 2004 - sollen zehn der 13 offiziellen Beitrittskandidaten die Chance haben, Mitglieder der EU zu werden.

Die EU-Erweiterung ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit: Wenn die Europäische Union mehr sein will als ein bloßer Club reicher Westler, wenn sie Frieden, Freiheit und Wohlstand für ganz Europa schaffen und sichern will, dann kommt sie um die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten nicht herum. Jahrzehntelang schmachteten diese Länder unfreiwillig und unverschuldet unter kommunistischen Diktaturen. Sie nun an jenem Wohlstand, mehr noch an jenem Raum der Freiheit und der Sicherheit, der unterdessen im Westen Europas geschaffen wurde, teilhaben zu lassen, ist auch eine Forderung der Gerechtigkeit.

Aber auch eine Frage der Vernunft: Niemand in Brüssel, Paris, Wien oder Berlin kann wollen, dass an der Stelle des früheren Eisernen Vorhangs ein neues Wohlstands- und Sicherheitsgefälle entsteht. Niemand kann eine wirtschaftliche und politische Spaltung Europas wollen, die den armen Nachbarn frierend vor der Türe stehen lässt. Wenn in Mittel- und Osteuropa Nationalitätenkriege ausbrechen, wenn wirtschaftliches Chaos und Korruption herrschen, wenn neue Diktaturen aus dem Boden wachsen, dann betrifft dies ganz Europa. Wenn Moskau gegenüber dem Baltikum die Muskeln spielen lässt oder Freischärler auf dem Balkan zum Morden ausziehen, kann das den Rest Europas nicht kalt lassen.

Vorteile schon jetzt

Es hat sich erwiesen, dass bereits die Hoffnung auf einen EU-Beitritt in vielen Staaten zu Reformfreudigkeit, wirtschaftlichem Aufschwung, internationaler Investitionsbereitschaft, Aussöhnung mit den Nachbarn, Volksgruppenrechten und demokratisch-rechtsstaatlichen Entwicklungen geführt hat. So konnte Ungarn historische Spannungen mit seinen Nachbarn Slowakei, Rumänien, Kroatien ebenso beilegen, wie Polen jene mit Litauen. Tschechen und Slowaken trennten sich friedlich. Anders bei den Staaten, die keine europäische Perspektive haben: Serbien überfiel fast alle seine Nachbarn. Die UÇCK destabilisiert Mazedonien. Albanien und Serbien können jederzeit explodieren. In Weißrussland herrscht ein Autokrat.

"Regatta-Modell"

Die EU sieht in den Beitrittskandidaten längst keine armen Nachbarn mehr, sondern aufnahmewillige Märkte und die Teamspieler von morgen. Der für die Erweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen meint, dass zehn Kandidaten Chancen hätten, 2004 gemäß Artikel 49 des EU-Vertrags beizutreten. Ursprünglich legten sich das Europäische Parlament und (nach einigem Ringen) auch die EU-Kommission auf das sogenannte "Regatta-Modell" fest: Jeder Kandidat sollte dann aufgenommen wird, wenn er selbst die "Kopenhagener Kriterien" erfüllt.

Diese sehen vor, dass "der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht hat". Ferner ist gefordert, dass die wirtschaftliche Situation eines Landes den Marktkräften in der EU standhält. Und schließlich gilt es, einen wachsenden "acquis communautaire", den gemeinschaftlichen Rechtsbestand, in die nationale Rechtsordnung zu übernehmen. Das "Regatta-Modell" meint: Wer bei der Erfüllung dieser Kriterien schneller rudert, kommt früher ans Ziel.

Doch dann kamen die nationalen Interessen der heutigen EU-Granden ins Spiel. Die deutsche Regierung insistierte darauf, dass es eine erste Erweiterungsrunde ohne Polen nicht geben dürfe. Polen ist mit fast 39 Millionen Einwohnern nicht nur der weitaus größte Beitrittskandidat; es bringt auch wirtschaftliche Belastungen mit. Wenn die in der EU mächtigen Deutschen darauf bestehen, dass Polen in der ersten Runde aufgenommen werden muss, kann kein Land, das in der Regatta vor Warschau liegt, draußen bleiben. Die Erfüllung des ersten, des politisch-rechtsstaatlichen Kriteriums billigt Brüssel allen Bewerbern zu; die Übernahme des Rechtsbestandes wird nach und nach abgehakt; bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage besteht Interpretationsspielraum.

Die EU gibt Gas

Beim Zeitplan gab das Europäische Parlament Gas: Zunächst plädierte die christdemokratisch-konservative EVP-Fraktion dafür, dass die ersten Kandidatenländer vor der Europawahl 2004 beitreten sollten. Seit sich die Kommission und die Staats- und Regierungschefs auf diese Formel festlegten, kann man den Zeitplan berechnen: Um an der Europawahl teilzunehmen, müssen die betroffenen Länder zum 1.1.2004 der EU beitreten. Dafür müssen die Verhandlungen noch 2002 abgeschlossen sein, um für das komplizierte Ratifizierungsverfahren ein Jahr Zeit zu haben.

Außer dem EU-Gipfel und dem Europäischen Parlament müssen auch alle Parlamente der bisherigen Mitgliedsstaaten den Neubeitritten zustimmen. Nun stehen die Kommission und die Beitrittskandidaten unter doppeltem Druck: Bis Jahresende müssen in zehn Staaten die Missstände in Politik, Justiz und Verwaltung beseitigt werden, während über 31 Verhandlungskapitel Einigung erzielt werden muss.

Übergangsfristen

Vorne im Rennen sind Slowenien, Ungarn, Estland und Malta. Estland und Slowenien können hoffen, kurz nach dem EU-Beitritt auch die Euro-Kriterien zu erfüllen. Übergangsfristen bei der Freizügigkeit für Arbeitnehmer braucht es im Fall Sloweniens oder Ungarns nicht. Warum sollte ein Slowene oder Ungar ins Ausland gehen, wenn er zuhause reich werden kann, wenn die Konjunktur boomt, Produktivität, ausländische Investitonen und Exporte wachsen?

Politisch problematisch wird aus bekannten Gründen nicht nur der Beitritt Tschechiens, sondern auch Zyperns. Im Gegensatz zu Malta bleibt Zypern trotz allen Drucks aus Ankara und Brüssel eine geteilte Insel, ein Zankapfel zwischen Griechenland und der Türkei. Dagegen hat sich die kleine Slowakei nach dem Sturz des Regimes MeÇciar langsam vom Paria zum Hoffnungsträger entwickelt. Estland, Lettland und Litauen liegen wirtschaftlich weit auseinander, doch eint sie eine Motivation: Nach Jahrzehnten sowjetischer Besatzung und mit riesigen russischen Minderheiten sehnen sie sich vor allem nach Sicherheit. In Tallinn, Riga und Vilnius wird man sich erst mit dem EU-Beitritt ganz sicher fühlen. Zugleich wird dadurch die Ostsee zu Europas "mare nostrum" - und die EU Russlands wichtigster Nachbar.

Durch die Erweiterung wird Europa größer, vielfältiger, sicherer und stärker. Fraglich ist, ob und wann jene Beitrittskandidaten eine Chance bekommen, die 2004 durch den Rost fallen: Bulgarien, Rumänien - und die Türkei, der die europäischen Regierungen seit Jahrzehnten eine Aufnahme versprochen haben. Und welche Perspektive will das vereinte Europa jenen Staaten geben, die es bislang nicht einmal als Kandidaten akzeptierte? Auch Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, Montenegro, Mazedonien und die Ukraine hoffen auf Europa.

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