Entfesselter Fortpflanzungsritus

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Tänzerisch und musikalisch ein Glanzstück: Strawinskys "Le sacre du printemps" in Graz.

Mit seinen Balletten schrieb Igor Strawinsky Theater- und Musikgeschichte, die seit Beginn der Moderne auch eine des Skandals ist. "Le sacre du printemps" wurde im Mai 1913 in einem neuen Saal ohne Patina gespielt. "Dieser luxuriöse Saal symbolisierte im ersten Augenblick den Irrtum, der darin bestand, daß man ein kräftiges und jugendliches Werk mit einem dekadenten Publikum konfrontierte...", so Jean Cocteau über die turbulente Pariser Uraufführung. Mehr als neun Jahrzehnte später ist die Kluft zwischen Werk und Publikum geringer geworden, nicht jedoch die Jugendlichkeit der Klänge, wie die jüngste Premiere am Opernhaus Graz beweist.

Die Inszenierung Darrel Toulons, die "Le sacre" den "Feuervogel", Strawinskys erste Arbeit für Diaghilew, voranstellt, fokussiert den Konflikt zwischen Natur und Kultur - seit der griechischen Tragödie Thema des Mythos wie der Kunst. In Zeiten der Globalisierung erscheint er drastisch verschärft. Das Märchen vom Zarensohn wird reduziert auf den Kampf des Guten gegen das Böse, einen Prinzessinnen klonenden Machthaber. Sehr gelungen Jörg Koßdorffs Bühne: Kunstwelt, Laboratorium mit gläsernen Brutkästen, wo halblebendige Gestalten in Nährflüssigkeit vor sich hindämmern, gespenstisch der Erweckung harren, getaucht in kühle Poesie farbigen Lichts und phantasievoller Kostüme (Anne Marie Legenstein). Großartig die tänzerischen Leistungen, allen voran Young na Hyun, die den Symbolgehalt der Titelfigur wundervoll sprechend zum Ausdruck brachte.

Ein Glanzstück bot das Grazer Philharmonische Orchester, das unter Peter Schrottner die raffiniert instrumentierte Partitur zum Leuchten brachte. Auch die farbigen Schläge, die körperliche Kraft der sich verselbständigenden Rhythmen des "Sacre" gelangen eindrucksvoll.

Doch nicht der explosiven Lebenskraft des russischen Frühlings gilt der Tanz. Mit einer apokalyptischen Vision verfolgte die Regie konsequent die radikale Linie weiter und zeigte den entfesselten Fortpflanzungsritus eines Volkes, dem die Liebe abhanden kam. Ob diese Lesart wirklich Neues erschließt, mag offen bleiben. Sehenswert ist der Abend allemal.

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