"Entschuldigen Sie diese Schmeicheleien“

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Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain und der Wiener Feuilletonist Eduard Pötzl trafen einander Ende des 19. Jahrhunderts in Wien. Skizzen einer bemerkenswerten Begegnung.

Wien hatte es den beiden angetan. Ende des 19. Jahrhunderts zur schillernden Metropole aufgestiegen, hatte sich ihre urbane Strahlkraft Jahr für Jahr verstärkt. Eduard Pötzl (1851-1914) war ihr schon lange erlegen, seiner Heimatstadt und "steinernen Geliebten“, wie er sie gerne nannte. In unzähligen Artikeln spürte der heute zu Unrecht vergessene Journalist den sozialen und mentalen Begleiterscheinungen des gewaltigen Transformationsprozesses, der die Stadt erfasst hatte, nach, auf zutiefst originelle und humorvolle Weise und mit größtem kommerziellen Erfolg. Seine Reportagen und Feuilletons thematisierten die kleinen Veränderungen des Alltags ebenso wie verschwindende Wiener Typen mit ihren spezifischen Dialekten, neu eingemeindete Orte und Sehenswürdigkeiten, aber auch vieldiskutierte Modernisierungstendenzen in Kultur, Kunst und Technik. Ganze vier Jahrzehnte lang sollte Pötzl letztlich für das renommierte Neue Wiener Tagblatt tätig sein, wo er zu einer Institution avancierte, zu einem der populärsten Großstadtreporter seiner Zeit. Und nur allzu gerne verstand er sich auch als Literat mit poetischem und kulturhistorisch grundiertem Anspruch, weshalb er seine Skizzen von Beginn an auch in Buchform veröffentlichte.

Zu den großen literarischen Vorbildern gehörte, neben Charles Dickens, der amerikanische Schriftsteller Mark Twain (1835-1910). Dieser war bereits ein gefeierter Star - seine "Abenteuer des Tom Sawyer“ waren 1876, jene von "Huckleberry Finn“ 1890 auf Deutsch erschienen -, als er am 28. September 1897 erstmals in der Stadt eintraf. Während seines Aufenthalts sollte Eduard Pötzl zu einem seiner engsten Freunde werden. Eine bemerkenswerte Begegnung in Wien also, die es verdient, in das Licht der Kulturgeschichte gehoben zu werden.

Twain auf einer Donaubrücke

Bereits unmittelbar nach Twains Ankunft verfasste Pötzl unter dem Titel "Der stille Beobachter“ einen humoristischen Willkommensartikel im Neuen Wiener Tagblatt. Darin beschrieb er, alles rein fiktiv natürlich, wie der amerikanische Schriftsteller auf einer Donaubrücke steht und wortlos Passanten beobachtet. Mehrere Personen sprechen ihn an, halten ihn für einen potenziellen Selbstmörder, und es entspinnen sich kuriose Missverständnisse. Am Ende der Geschichte resümiert der Autor augenzwinkernd: "So ungefähr wäre es unserem berühmten Gaste Mark Twain ergangen, wenn er sich seinem Vorhaben gemäß, an einer Brücke aufgestellt hätte, um Studien in Wien zu machen.“

Einige Tage später besuchte Pötzl den Gast persönlich, der mit seiner Familie im noblen Hotel Métropole, am Morzinplatz direkt am Donaukanal, residierte. Obgleich Twain gesundheitlich etwas angeschlagen war, freute er sich die Wiener Literatenszene kennenzulernen, insbesondere Eduard Pötzl, von dessen humoristischer Begabung er schon viel gehört hatte.

Zwischen den beiden entwickelte sich eine warmherzige Beziehung, Pötzl wurde zu Twains wichtigster Wiener Bezugsperson. Er zeigte ihm die Stadt, versorgte ihn mit Büchern (auch seinen eigenen), organisierte Theater- und Konzertkarten für die ganze Familie. Twain wollte u. a. seine beiden Kinder Clara und Jean von dem renommierten Pianisten und Musikpädagogen Theodor Leschetitzky (1830-1915) unterrichten lassen. Darüber hinaus besuchte er zahlreiche künstlerische Salons und wurde, wie Karl Kraus kritisch anmerkt, in der Kunstszene regelrecht herumgereicht. Als Twain am 31. Oktober auf Einladung des Journalisten- und Schriftstellervereins "Concordia“ eine Rede hielt, erwies er Pötzl eine launige Reverenz: "Herr Pötzl hat in einem humoristischen Feuilleton über mich das Publikum glauben machen wollen, daß ich nach Wien gekommen bin, um die Brücken zu verstopfen und den Verkehr zu hindern, während ich Beobachtungen sammle. Lassen Sie sich aber nicht von ihm anführen. Meine häufige Anwesenheit auf den Brücken hat einen ganz unschuldigen Grund. Dort gibt’s den nötigen Raum, meine deutschen Forschungen fortzusetzen. Dort kann man einen langen deutschen Satz ausdehnen, die Brückengeländer entlang. […] Gewöhnlich sind für meinen Zweck die Brücken der Stadt lang genug: Wenn ich aber Pötzls Schriften studieren will, benutze ich die herrliche unendliche Reichsbrücke. Aber das ist eine Verleumdung. Pötzl schreibt das schönste Deutsch, vielleicht nicht so biegsam wie das meinige, aber in manchen Kleinigkeiten viel besser. Entschuldigen Sie diese Schmeicheleien - sie sind wohl verdient.“

Nach achtmonatigem Aufenthalt übersiedelte die Familie Twain im Mai 1898 zur Kaltwasserkur ins niederösterreichische Kaltenleutgeben. Für spezielle Anlässe wie den Schützenfestzug (26. Juni) oder den Trauerzug für Kaiserin Elisabeth (17. September) kam Twain abermals nach Wien, wo er wohl erneut mit Pötzl zusammentraf. Ab dem 15. Oktober ließ er sich schließlich wieder für längere Zeit in der Hauptstadt nieder, diesmal im neu errichteten Hotel Krantz am Neuen Markt.

Pötzl und Twain korrespondierten weiterhin häufig, man traf sich zum Essen, die Freundschaft vertiefte sich, wie erhaltene Briefe belegen. Dass sich die Beziehung zwischen den beiden so rasch intensivierte, ist für die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Gerlinde Ulm Sanford darin begründet, dass viele damals Twain irrtümlicherweise für einen Juden hielten. So habe sich der bekannt philosemitische Pötzl von vornherein blendend mit Twain verstanden, während der tendenziell antisemitische Karl Kraus, der Twains Wiener Aufenthalt mehrmals in seiner Fackel kommentierte, eher zu kritisch-sarkastischen Bemerkungen neigte.

Wenngleich diese These möglicherweise zu weit greift, scheinen Pötzl und Twain mit ihrer ähnlichen Art von Humor eine unverkennbare Seelenverwandtschaft besessen zu haben. Und diese war zweifellos ein starkes Bindeglied zwischen den beiden.

Im Frühjahr des nächsten Jahres gelang es Twain, eine Privataudienz bei Kaiser Franz Joseph zu erlangen, ehe er wegen des schlechten Gesundheitszustands seiner Tochter am 26. Mai 1899 endgültig in die USA zurückkehrte, unter großer Anteilnahme der Wiener Bevölkerung, die ihn am Franz-Josephs-Bahnhof herzlich verabschiedete.

"Charming hours“

Die kommenden Jahre über blieb Pötzl mit Twain weiter in Briefkontakt. Im Dezember 1900 lud er ihn ein, für das Neue Wiener Tagblatt eine Weihnachtsgeschichte zu verfassen, was dieser jedoch aus juristischen Gründen ablehnen musste. In seinem auf Englisch geschriebenen Brief erinnerte sich Pötzl nochmals an Twains Wienaufenthalt: "The memory of the charming hours that I spent in your and your family’s circle is indelible.“ Eine scheinbar vor Kurzem erfolgte Einladung Twains, ihn doch in den USA zu besuchen, lehnte Pötzl jedoch seinerseits ab: "I am too much of a Viennese and would not be able, therefore, to ever decide to make a journey across the ocean.“

Als Twains Ehefrau vier Jahre später starb, sandte Pötzl ein Beileidschreiben, das Twain seinerseits mit den traurigen Worten beantwortete: "Good-bye, dear Pötzl, if we meet no more.“ In der Tat sollten sich die beiden nicht wiedersehen. Zwar veröffentlichte Pötzl zu Twains 70. Geburtstag eine ausführliche Würdigung im "Neuen Wiener Tagblatt“, aber eine erneute Begegnung blieb beiden verwehrt. Twain, der den Artikel zugesandt bekam, bedankte sich mit den nostalgischen Worten: "The sound of your voice in print brings back Vienna, & you, & Leschitzky to me & fills me with memories of blessed days!“

Pötzl selbst starb zehn Jahre später, im August 1914, hochdekoriert als Ehrenbürger der Stadt Wien.

Der Autor ist Historiker und Stadtforscher sowie Bereichsleiter im Technischen Museum Wien

Buchpräsentation

Eduard Pötzl: Großstadtbilder. Reportagen und Feuilletons - Wien um 1900. Hg. v. P. Payer. Di, 23. Okt., 18.30, Presseclub Concordia (Bankgasse 8, 1010 Wien)

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