Er formte Geschichten DER SIEGER

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Rudyard Kiplings Literatur hat eine enorme Wirkung erfahren. Die Widersprüche in seinen Werken erfordern eine skeptisch wache Lektüre.

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Rudyard Kiplings Literatur hat eine enorme Wirkung erfahren. Die Widersprüche in seinen Werken erfordern eine skeptisch wache Lektüre.

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Kipling ist Kult, aber Kipling ist nicht Kanon. Schon früh ein literarischer Weltstar, wurde der 1865 in Bombay geborene Autor, der seine Schulzeit in England verbrachte und ab 1882 wieder in Indien lebte, politisch verdächtig als Apologet des Militärischen, verrufen als "Minnesänger des Imperialismus", gar als Propagandist im Burenkrieg und Ersten Weltkrieg. Während Freunde das einzigartige Talent und das mitreißende Werk des als Schöpfer des "Dschungelbuchs" (1894/95) und des Indien-Romans "Kim"(1901) bekannten Autors rühmten -W. H. Auden etwa war der Meinung, man werde Kipling seine Ansichten verzeihen, weil er so gut schreibe -, urteilte George Orwell 1942, Rudyard Kipling habe sich moralisch an die britische Herrscherklasse verkauft.

Der Literaturwissenschaftler Edward Said ging in seinem großen Kipling-Essay "Wonnen des Imperialismus" tiefer. Kipling sei zwar von der Pax Britannica überzeugt, aber nicht als Agent der britischen ruler class, sondern als Anglo-Inder mit einem prekären interkulturellen Status. Darin liegt zweifellos ein großer Reiz: Kipling ist ein Streitfall kultureller Repräsentation, ein früher Fall des Sowohl-als-auch, des in-between-politisch, literarisch und in persona. "Er gab sich weltoffen und tolerant, fiel aber gelegentlich zurück in die rassistischen Denkmuster, Klischees und Vorurteile seiner Zeit", schreibt Alexander Pechmann in dem von ihm übersetzten und kommentierten Reiseband "Von Ozean zu Ozean. Unterwegs in Indien, Asien und Amerika" (mare 2015). "Diese Widersprüche lassen sich nicht auflösen. Sie sind ebenso Teil seines Werks wie sein ständiges Schwanken zwischen Neugier und Abscheu, heiterer Selbstironie und bitterem Sarkasmus, optimistischem Interesse am Fortschritt und Kritik an der Zerstörung alter Werte, Kulturen und Traditionen." Das sind Kiplings Ambivalenzen, die, bei aller Wirkungsmacht seines Schreibens, zu einer skeptisch wachen Lektüre raten lassen.

Moderne Reiseliteratur

Intellektuelle Schwankungen zwischen enthusiastischer Hingabe und ätzender Kritik sind die auffälligen Muster in den "Reisebriefen aus Amerika" (in: "Von Ozean zu Ozean"). Orientiert am fantastisch ironischen Duktus seines kalifornischen Vorbildes Bret Harte und an Mark Twains literarischem Realismus, war der junge Kipling hin und her gerissen zwischen dem Glanz der amerikanischen Moderne einerseits - etwa den emanzipierten Frauen von San Francisco -, und dem robusten Raubtierkapitalismus andererseits, in seiner Totalen erblickt in den Schlachthöfen von Chicago. Diese Texte sind an anglo-indische Leser gerichtet, kulturgeographisch verfügt dieser Lagebericht also über sehr spezielle moralische und ästhetische Koordinaten, die das ganze Werk durchziehen.

Poetologisch beherrschte Kipling das volle Spektrum moderner Reiseliteratur. Zum einen also detaillierte Stadtsoziologie, amerikanische Schicksale, Underground in Chinatown, fast malerische Beschreibungskunst im Yosemite-Nationalpark, exakte Recherche und Fakten, das alles erfasst mit subjektiver Verve - und hin und wieder solchen Brocken: "Der Weiße Mann ist böse, wenn er in Massen auftritt." Hier spricht der offenherzige Anglo-Inder, der eben weiße Gesellschaftsformationen als elitäre Minderheit kennt. Aber wer spricht später, beim Besuch einer schwarzen Kirchengemeinde: "Jene sauber gekleideten Leute auf den Bänken, die grauhaarigen Älteren am Fenster, waren Wilde - nicht mehr und nicht weniger." Frank Harris, Journalist aus London, charakterisierte Kipling einmal so: "Er verbindet die Vorurteile eines sechzehnjährigen englischen Schuljungen mit einer außergewöhnlichen sprachlichen Ausdrucksfähigkeit". Wenn es nur das wäre, es wäre die Frühphase eines Genies, der kindische Kipling, aber leider ist es mehr, das zeigt der indische Kipling.

Kiplings reifstes Buch ist der Roman "Kim" (neu übersetzt von Andreas Nohl, Hanser 2015). Er handelt vom verwaisten Sohn eines irischen Soldaten, der mitten in Bombay wie ein Gassenjunge lebt und eines Tages einen alten Pilger trifft, der ihn zu seinem Helfer macht. Der Heilige aus Tibet sucht den magischen Fluss der Erlösung, Kim selbst sucht einen geheimnisvollen roten Stier auf grünem Grund, und so beginnt eine lange Reise durch Indien. Nebenbei wird Kim von anderen Mitspielern in das Great Game eingeweiht, den Spionagekrieg zwischen den Briten und ihrem Erbfeind Russland. Das Augenfällige an dieser Geschichte ist weniger geopolitische Strategie als ein ungeheuer komplexes, kulturelles Setting, ein bis dahin unbekanntes Indienbild, das sich Kiplings jahrelangen Recherchen als Journalist verdankt. Weniger offensichtlich ist das geheime Motiv auf der Handlungsebene, wo sich im atemberaubenden Getümmel Indiens ein Charakter entwickelt, der seine Überlegenheit im Kampf der Kulturen und Weltanschauungen ab ovo dem weißen Gen verdankt.

Überlegenheit im Dschungelbuch

Überlegenheit ist auch das zentrale Motiv im "Dschungelbuch"(neu übersetzt von Andreas Nohl, Steidl 2015). Es folgt hier einer etwas kryptischen sozialdarwinistischen Logik und beginnt mit der Erziehung des Menschen aus dem Ursprung seiner Wildheit. Mogli unter Wölfen, Freund von Bär und Schwarzem Panther, der sich strategisch mit einer Python verbündet und den blutrünstigen Tiger besiegt, erfährt zunächst die ganz und gar magische Allmacht eines Menschenkindes, das den wilden Tieren nur in die Augen zu sehen braucht, um sie zu beherrschen. Im Kampf aller gegen alle erhebt sich das aus dem indischen Dorf verschleppte Waisenkind zum magischen Herrn des Dschungels, aber die wahren Herrscher sind die Briten, jene moralischen Herren der Zivilisation, die ihn am Ende in ihr großes Spiel integrieren.

Dieser imperialen Logik folgt Kiplings Subtext der Macht, lianenhaft verworren im halbdiffusen Licht faszinierender Dschungelabenteuer, die im literarischen Spiel Interpretationsspielräume offen lassen; solche gibt es aber nicht für die damals real unterworfenen Völker Indiens, deren Befreiungskämpfe kein großes Thema für den Anglo-Inder Kipling sind, auf ihrer Seite ist er nicht. Wir heutigen Leser perfekt gebauter Geschichten (oder sind es genial konstruierte Fallen?) finden uns dagegen etwas zu schnell auf der Seite von Mogli und sind natürlich mit ihm gegen die rückständigen Dörfler, die Frauen verbrennen. Man könnte fast übersehen, dass Moglis Freunde allesamt Raubtiere sind, aber: "Kein Tier ist grausamer als der Mensch", so räsoniert das Dschungelbuch, und dies ist wieder eine der vielen Kipling-Weisheiten, die sich oftmals widersprechen und ethisch neutralisieren. dern, welche gegen Hunger, Dürre und Seuchen kämpfen und daran 'im vorgeschriebenen Alter von 22 Jahren' sterben, ist sein Ton zynisch, sobald es um die Spitzen der imperialen Verwaltung geht", schreibt der Übersetzer Gisbert Haefs in seinem Nachwort zu Kiplings Roman "Über Bord"(Edition Büchergilde 2015)."Während die Untergebenen in den Ebenen sterben, wird in der Sommerresidenz Simla gemauschelt und intrigiert; Protektion, Korruption und Vetternwirtschaft sind die Regel. Beamte, die ohne Indienkenntnisse auf hohe Posten gelangt sind, fällen katastrophale Fehlentscheidungen; auf dem Rücken der Leichen werden Geschäfte gemacht."

Bissiger Esprit

Man lese diese berühmten "Plain Tales from the Hills" ("Falsche Dämmerung. Geschichten aus Indien", Fischer Taschenbuch 2014), worüber die anglo-britischen Stützen der Gesellschaft nicht amüsiert waren: Der bissige Esprit des jungen Störenfrieds bleibt zeitlos frisch. Kiplings Frauenbild insgesamt und die viktorianische Pädagogik der harten Jungs insbesondere, wie sie in "Über Bord" zum Ausdruck kommen, sind dagegen nicht mehr en vogue. Überzeugend bleibt allerdings die deskriptive Präzision und formale Klarheit dieses Seefahrer- und Fischer-Romans, denn Kipling kommt sehr nah an die Wahrheit des Menschen heran, wo er genau beobachtet und vorurteilsfrei reflektiert. "Über Bord" ist eine Glanzleistung realistischer Erzählkunst, die den größten Einsatz eines wirklich guten Übersetzers fordert, kongenial: Gisbert Haefs. Er ist ein Argument pro Kipling, insgesamt ist die Arbeit an Kipling über Generationen von Übersetzern hinweg eine äußerst wertvolle Leistung für die Literatur.

Was bleibt von Kipling? Die Fallkurve dieses Autors erinnert an Knut Hamsun (Literaturnobelpreis 1927), der sich im Alter als Nazi offenbarte, wovon, wie dessen Verteidiger stets betonten, einzigartige Frühwerke wie "Hunger" oder "Pan" nichts ahnen lassen. Und doch ist der antihumanistische Herrenmensch in Hamsuns Frühwerken in nuce enthalten. Kipling dagegen, der 1907 den Literaturnobelpreis erhalten hat (zu dieser Zeit lebt er nach einem längeren Zwischenaufenthalt in den USA bereits in England, wo er 1936 sterben wird), ist keineswegs Faschist geworden. Ohnehin ist er erklärtermaßen Freimaurer. Er ist vielschichtig, widersprüchlich und weltläufig, aber er formt entschieden die Ideologie einer Siegergeschichte - die "Herren der Welt" beherrschen auch sein Werk. Kipling steigt und fällt also mit dem kritischen Blick seiner Leser.

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