"Erinnern beschränkt uns nur"

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Die Reihe Schauspiel der Wiener Festwochen beginnt mit der Tetralogie "The Apple Family Plays" von Richard Nelson, über US-amerikanische Politik und die Auswirkungen auf das Leben der einzelnen.

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Die Reihe Schauspiel der Wiener Festwochen beginnt mit der Tetralogie "The Apple Family Plays" von Richard Nelson, über US-amerikanische Politik und die Auswirkungen auf das Leben der einzelnen.

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Während in der Halle E zum dritten und bereits letzten Mal Salvatore Sciarrinos Oper "Die tödliche Blume" in der bildgewaltigen Inszenierung von Achim Freyer über die Bühne ging, startete in der Halle G der erste Teil des amerikanischen Konversations-Zyklus "The Apple Family Plays".

"That Hopey Changey Thing" lautet der Titel des Eröffnungsabends dieser mehrteiligen Produktion, die aus vier eigenständigen Stücken besteht. Jeden Abend wird chronologisch ein weiterer Part aufgeführt, am Samstag gibt es den Apple-Marathon, für jene, die die Geschichte dieser Familie als Ganzes erleben möchten. Zusammen mit einem Schauspielerensemble mit hohem politischen Anspruch erarbeitete Autor und Regisseur Richard Nelson eine Produktion, die gesellschaftliche und politische Brüche persönlich spürbar werden lässt.

Mittelständische amerikanische Familie

Die Apples sind Repräsentanten einer mittelständischen amerikanischen Familie. Vier Geschwister, Jane, Marian, Barbara, Richard, und ihr betagter Onkel Benjamin, stammen aus Rhinebeck, einer kleinen Stadt 160 km nördlich von New York. Hier trifft die Familie am Abend des 2. November 2010 zusammen. Das gemeinsame Essen wird zum Schauplatz von sowohl innerfamiliären Streitgesprächen als auch politischen Meinungsverschiedenheiten.

An diesem Tag finden in Amerika die Midterm Elections statt, die Wahlen zur Halbzeit der vierjährigen Amtszeit des Präsidenten. Während die Geschwister über politisch-ideologische Werte diskutieren, Familiengeheimnisse zu lösen suchen, Huhn, Bohnensalat und Kürbiskuchen essen, wählen in den USA 82,5 Millionen Menschen. Trotz der Mehrheit im Senat gilt diese Wahl als große Niederlage der demokratischen Partei.

Nelson inszeniert das 90-minütige Kammerspiel subtil und realistisch. Hier wird tatsächlich gegessen und getrunken, gesungen und geweint, die Dialoge sind weder Textflächen noch künstlerisch überhöhte Diskurse. Vielmehr verdichtet Nelson die Alltagssprache einer kleinbürgerlichen Familie mit hohem humanistischen Anspruch.

Auch wenn Verständnis, Akzeptanz und Toleranz propagiert werden, zeigt sich dies in der Praxis als schwierig. Während die Apples politische Debakel bei Eis und Kuchen diskutieren, dringt der banale Alltag in die schlichte Wohnstube: Toby, der neue Hund, ist nicht in Griff zu kriegen, er legt sich mit einem Stinktier an oder wälzt sich im eigenen Kot. Zwischendurch wird der Tisch abgeräumt und alte Melodien am Klavier gespielt. Die jüngste Schwester Jane hat ihren neuen Freund, den Schauspieler Tim, mitgebracht. Sämtliche Informationen scheinen hier hierarchisch gleichwertig, ob von Onkel Benjamins Herzinfarkt gesprochen wird, dem Rätsel um den Vater, der aus unerfindlichen Gründen die Familie verlassen hat, oder von den soziologischen Studien Janes.

Theorie wird schnell zur Praxis

Hier zeigt sich das Kerninteresse Nelsons: Er richtet den Blick auf das Verhalten der Amerikaner, beleuchtet ihre Mentalität, die Rituale von Gastfreundschaft, die Regeln der Höflichkeit und auch ihr Wahlverhalten. Die Theorie wird hier schnell zur Praxis: etwa wenn Janes Freund, der eigentlich Vegetarier ist, aus Höflichkeit das Huhn isst, dann sind die Fragen der gesellschaftlichen Etikette schlagartig Thema.

Auch bekommt Janes Hinweis auf das Spiel mit Verschleiern und Vertuschen prompt tragische Gestalt, da Onkel Benjamin seit seinem Herzinfarkt an Gedächtnisverlust leidet. An diesem Punkt eröffnet Nelson einen philosophischen Diskurs, etwa wenn gerade Benjamin als ehemaliger erfolgreicher Schauspieler, der eine Vielzahl an Theaterrollen verkörperte und entsprechende Textmengen studierte, seine Erinnerung verloren hat. "Ich bin frei", sagt er nun, sichtlich alles andere als unglücklich. "Das Erinnern beschränkt uns nur."

Onkel Benjamin bricht die Regeln der Konvention und eröffnet die Bühne zur Spielwiese zwischen Verstecken und Offenbaren. Innerhalb dieser Familien-Konstellation gewinnt die Situation an besonderer Brisanz, verschränken sich Vertrautheit und Distanz auf seltsame Weise. Der außenstehende Tim bringt eine neue Dynamik in die Gesprächskultur der Apples, die im Sinne des vielversprechenden Titels auch an den kommenden Abenden individuelle und gesellschaftliche Veränderungen verhandeln werden.

Besonders innovativ startet das Schauspielprogramm des Wiener Festwochen mit dieser Produktion nicht, Schauspieldirektor Stefan Schmidtke setzt eher auf Subtilität und Konvention. Dennoch erwartet man mit leiser Spannung die Auflösung so mancher Apple'scher Familiengeheimnisse vor dem Hintergrund weltpolitischer Ereignisse.

The Apple Family Plays, Tetralogie

MuseumsQuartier, 23. Mai, 13 Uhr

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