Erinnern, Verdrängen, Vergessen

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Niemals vergessen!" Wie oft hören wir diese Mahnung gerade jetzt. 70 Jahre nach Krieg und Diktatur geht es wieder um die Täter und Opfer von einst. Zugleich wird der Vernichtung des armenischen Volks vor hundert Jahren gedacht. Und der Türke Recep Tayyip Erdogan überraschte soeben mit dem zornigen Schwur, sein Volk werde dem deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck das Wort vom Völkermord "nie vergessen".

Viel neue Brisanz also um ein altes Dilemma: Was sollten wir im Gedächtnis bewahren? Und was dürfen wir vergessen? Eine alte Faustregel empfiehlt: Alles, was Menschen und Völker voneinander trennt, sollte aufgearbeitet, irgendwann aber auch besser vergessen werden. Und alles, was versöhnt, sollte behalten werden.

Wir leben in einer Zeit ausgeprägter Erinnerungskultur. Gedenkstunden, "History"-Sendungen und Ausstellungen boomen. Auch neue Denkmale entstehen - trotz des zynischen Wortes von Robert Musil: "Das Auffallendste an Denkmälern ist, dass man sie nicht bemerkt."

Deutsche Intellektuelle mahnen bereits: Ein Zuviel an "Niemals vergessen" führe unausweichlich zur "Gedenk-Erosion". Jede Betroffenheit erkalte, wo Erinnerung zum Ritual erstarre. Sowieso schwinde die Haltbarkeit historischen Wissens mit der Rasanz unserer Tage.

Das Gegenteil erleben wir soeben am Beispiel Armenien: Erst nach 100 Jahren bohrt sich ein vergessenes Drama tief in unser Gedächtnis - und wird zum brisanten Politikum.

Genau zehn Jahre sind vergangen, seit ich 2005 eine Gedenkrede zu "90 Jahre armenischer Völkermord" halten sollte. Bei der Vorbereitung entdeckte ich nicht nur meine eigenen, peinlichen Wissensdefizite - atemberaubend war auch die Ahnungslosigkeit heimischer Politik-Experten, deren Geschichtskenntnis ich "anzapfen" wollte.

Der Keim neuer Bestialität

Jetzt aber ist alles anders. Obwohl die entsetzlichen Fakten damals genauso bekannt waren wie heute. Obwohl der Vorwurf des Völkermords inzwischen auf einer Generation von Türken liegt, die keine Schuld mehr trägt. Und obwohl das Jahrhundert seither randvoll von ähnlicher Unmenschlichkeit war - von Afrika über China, die UdSSR bis ins Herz Europas. Und viele dieser Gräuel bis heute nicht eingestanden sind.

Das heißt: Nach wie vor wird "Erinnerungskultur" nicht nur von ehrbaren Motiven, sondern auch von jämmerlicher Krisen-PR (siehe Erdogan) gesteuert; von politischen Interessen und von Feindbildern des jeweils herrschenden Zeitgeistes.

Ein bitteres Fazit, denn jede Verdrängung trägt den Keim neuer Bestialität in sich. Erinnern wir uns nur an das schreckliche Wort Hitlers, der 1939 seine geplante Juden-Vernichtung mit dem Satz rechtfertigte: "Wer erinnert sich heute noch an die Armenier?!"

In vielen historischen Verträgen ist den Feinden das Vergessen aller Gräuel zur Pflicht gemacht worden. Aber nur dann, wenn beide den Frieden wollten. Vorher musste offen geredet werden.

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