Erinnerung an einen NoNkoNformEN

Werbung
Werbung
Werbung

Bei seiner Einberufung war er in einem makabren Irrtum befangen. Als "der letzte der Kriege" erschien ihm dieser vorhergeahnte, den es nun "für die allgemeine Abrüstung" zu führen gelte. Im Rang eines Leutnants der Reserve stand er seiner Kompanie vor. Am 5. September, dem ersten Tag der Schlacht an der Marne, traf ihn eine Kugel in den Kopf. "Als ich gestern las, Charles Péguy sei gefallen", schrieb Stefan Zweig an Romain Rolland, "hatte ich nur Trauer, nur Bestürzung in mir, nirgendwo stand in meinem Herzen seinem Namen beigemengt das Wort: Feind! Wie schade um den edlen reinen Menschen!"

Mit 41 Jahren war ein Leben gewaltsam zu Ende gegangen, dessen Eigensinn unvermindert zu faszinieren vermag. Aus einer Vorstadt von Orléans stammend, wächst Péguy unter einfachsten Menschen auf. In Paris bricht der einstige Musterschüler sein Lehramtsstudium vor dem Examen ab. Während der Affäre Dreyfus engagiert er sich als sozialistischer Aktivist zugunsten des unrechtmäßig verurteilten jüdischen Hauptmanns. Auch jene Bewegung aber, die enthusiastisch begonnen hatte, korrumpiert in organisierten Machtansprüchen. Mit seinen Worten: Alle "Mystik" endet zuletzt in "Politik". Vor linker Parteidisziplin mochte Péguy sich jedenfalls nicht beugen. "Die soziale Revolution wird eine sittliche sein, oder sie wird sich überhaupt nicht ereignen" - in Großbuchstaben lässt er den Satz auf der Umschlag-Innenseite seiner ersten "Halbmonatshefte" drucken, den Cahiers de la quinzaine, die er infolge dieses Zerwürfnisses 1900 gründet und unter Entbehrungen am Laufen hält. Herausgeber, Lektor und Vertriebsleiter ist er dort, wichtigster Autor obendrein, dessen essayistische Prosa der deutsche Kollege Ernst Stadler "in Frankreich ohne Vorbild und ohne Gleichen" nennt.

Neue Routen

Mit Péguys existenzieller Unruhe wächst die Sehnsucht nach Gnade. In seiner Vermessung des "säkularen Zeitalters" hat Charles Taylor ihn als ein "Paradebeispiel jener Pioniere" gewürdigt, durch welche das angefochtene Christentum "neue Routen zu Gott" erkunde. 1907 lässt Péguy erstmals seine Rückkehr zum katholischen Glauben durchblicken, von dem er sich als Heranwachsender gelöst hatte. Ohne Nähe zur akademischen Theologie der vorfindbar kirchlichen Institution oder gar ihrem bürgerlichen Milieu, verleiht dieser seinem Werk fortan das Gepräge. Ab 1910 erscheint eine Reihe größerer und kleinerer Dichtungen in Versen, drei als "Mysterium" bezeichnete darunter, voll von insistierenden "Stimmen" mit ihren bis in letzte Feinheiten hinein einander antwortenden und überlagernden Tonlagen.

Unhintergehbar polyphon ist Péguys Denken auch inhaltlich. Seinen Angelpunkt aber bildet eine vehemente Kritik der Moderne, gegen deren raumgreifende Dynamik er in ebenso maßlosen wie hellsichtigen Ausfällen wütet, die teils von grimmigem Humor unterfüttert sind. Als Entzifferer der "modernen Welt" bezeichnet ihn der Untertitel jenes klugen Buchs, in dem Alain Finkielkraut sich mit der zeitdiagnostischen Anschlussfähigkeit dieses mécontemporain, des "Unzeitgenossen" Péguy, auseinandersetzt und ihn zugleich von problematischen Vereinnahmungen der Vergangenheit abgrenzt.

Fortschritt als Geschwätz

Was von Wissenschaftlern und Politikern heute noch stärker als damals hegemonial affirmiert wird (und die gesamte Alltagskultur durchsetzt), der besinnungslose Ausgriff nach vorn, angetrieben vom Mythos immer weiterer Verheißungen, ist für Péguy bloßes Geschwätz. In ihrem nicht etwa "a-", sondern "autotheistischen" Überlegenheits-und Sendungsgestus, zu dem geistige, technische und ökonomische Prozesse sich vereinigen, erniedrigt die Moderne alles, was anders war und ist als sie selbst. "Vollständig" räumt sie jede Erinnerung ab. Sie verkündet Freiheit und bringt doch neue Knechtschaften. In jeder Hinsicht beherrscht diese Welt unter dem Absolutum des Geldes das Gesetz scheinobjektiv-autoritärer Quantifizierung, einer Überwältigung durch Zahlen. Der Preis dafür aber ist offensichtlich. Um ein Wortspiel des Autors nachzubilden: "In der modernen Welt leidet alle Welt an der modernen Welt. Diejenigen, die dort ihre Profite machen, sind genauso unglücklich wie wir. Alle Welt ist in der modernen Welt unglücklich." Dabei handelt es sich nicht bloß um Entgleisungen. Solche Folgen sind in der Struktur des Phänomens selbst begründet.

Mit dem Brandzeichen, es handle sich um konservative Kulturkritik, sollte man nicht zu schnell bei der Hand sein -obwohl es natürlich stimmt: Etwas im Kern bewahren zu wollen, gilt der Moderne als das Verwerflichste überhaupt. Doch der antimoderne Berserker Péguy verbreitet keine Nostalgie. Ein unruhiger und kritischer Moderner ist er selbst, nur eben ein Moderner, der nicht blindlings auf die Moderne hereinfällt, sondern sie dem Verhör unterzieht. Was ihm schmerzhaft bewusst war, werden "die Modernen" nie begreifen: das bleibend Unversöhnte in menschlicher Geschichte, sofern nicht der "Tagesspalt" eines ganz Anderen "sich auf wer weiß welche Unterbrechung der Zeit hin öffnet". Anwesenheit des Ewigen im Denken wach zu halten: Darin sieht er die prophetische Mission Israels, das "nicht allein die Narben der eigenen Kämpfe, sondern die aller Geschlechter" trägt.

Neben der Avantgarde der Expressionisten und Dadaisten gehört daher kaum von ungefähr Walter Benjamin früh zu den Bewunderern des Franzosen, bei dem er eine "unglaubliche" Gleichgestimmtheit entdeckt. "Vielleicht darf ich sagen", vertraut er 1919 Gerhard Scholem an, "nichts Geschriebenes hat mich jemals so aus der Nähe aus dem Miteinander berührt." Und weiter: "Ungeheure Melancholie gemeistert."

Schwerer Vollzug des Hoffens

Gegen den "natürlichen Drang" zur "Verzweiflung" setzt der homo religiosus Péguy als Leitbild den "schweren" Vollzug des Hoffens. Derlei ist völlig verschieden von der "gegnerischen" Annahme eines "ständig forcierten, ständig erreichten und errungenen, ständig verstärkten Fortschritts". Jede eigentliche Revolution bedarf vielmehr der "Tradition", nicht der verwaltenden Rückkehr zu ihr, sondern ihrer produktiven Verlebendigung: "Eine Revolution ist eine Aushebung, eine Vertiefung, eine Überschreitung in der Tiefe." Zu Kräften in diesem Sinne gehört für Péguy alles, was angesichts der unablässig geforderten Mobilmachung humanem Einwurzeln dient. Deshalb sind "Familienväter die großen Abenteurer der modernen Welt". Deshalb auch ist, sozial wie national konnotiert, "Volk ein schönes Wort". Erst recht aber handelt es sich bei der Spiritualität des Christlich-Katholischen um etwas, das, "vereinsamt wie ein Leuchtturm", quer zu den destruktiven Prinzipien der Moderne steht.

Während von ganz unterschiedlichen Lesarten her das aktuelle Echo auf Péguy in Frankreich beträchtlich tönt, ist im deutschen Sprachraum kein einziges Buch von ihm lieferbar. Bis in die 80er-Jahre hinein war das sehr anders. Dass einer wie Péguy hier nun völlig vergessen scheint, liegt aber nicht allein darin begründet, dass der deutsche Katholizismus sein intellektuelles Gedächtnis längst losgeworden ist. Wen nämlich der Versuch überfordert, Kritik und Gebet allenthalben so zusammen zu bringen, wie dieser wunderbar nonkonforme Anreger es tut, für den wäre Charles Péguy ohnehin eine vergebliche Lektüre.

Der Autor ist Professor für Ästhetik und Kommunikation an der Kath. Hochschule Nordrhein-Westfalen in Münster

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung