Erinnerungen an Franco Basaglia

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Ingram Hartinger schrieb eine lesenswerte Würdigung des Pioniers der "Offenen Psychiatrie"

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Ingram Hartinger schrieb eine lesenswerte Würdigung des Pioniers der "Offenen Psychiatrie"

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Nicht nur die Fachwelt wurde 1967 von den Vorgängen in Görz nahe Triest erschüttert: Die Patienten besetzten ihr Irrenhaus und leiteten radikale Veränderungen ein. Psychisch Kranken wurde das Recht auf Entscheidung zurückgegeben. "Der Spinner durfte nun ein Bewußtsein seiner Krankheit haben, er konnte demnach über sein Schicksal entscheiden und offiziell auch dafür Verantwortung übernehmen" schreibt der Arzt und Freund des Autors, Lorenzo Toresini, im Nachwort.

Der Leiter des "besetzten" Krankenhauses war Franco Basaglia, "der verrückte Arzt, der gemeinsam mit den anderen die Bürde auf sich genommen hat, das Schwerste zu tun, nämlich zu versuchen, die Beziehung zwischen Krankheit und Gesundheit zu ändern: vom autoritären Paternalismus ... zur dialektischen Möglichkeitsfindung einer risikobereiteren Autonomie des sich entwickelnden Subjekts". Ihm hat Ingram Hartinger nun ein bemerkenswertes literarisches Denkmal gesetzt, der kleinen Klagenfurter "edition selene" gebührt dafür große Anerkennung. Franco Basaglia wagte sich an ein Tabu: Er plädierte für die Öffnung der "Klapsmühlen". Bis heute ist Italien das einzige Land, in dem psychiatrische Kliniken durch ein Netz dezentraler Versorgungseinrichtungen ersetzt und damit die Mauern der Psychiatrie tatsächlich eingerissen wurden. Immer wieder besuchte Ingram Hartinger Franco Basaglia und machte Notizen über diese Begegnungen. Als Arzt in Klagenfurt setzte er sich mit der Psychiatriereform auseinander. Viele Jahre nach Basaglias Tod veröffentlicht er nun vor allem jene Aufzeichnungen, die nicht nur die Arbeit des medizinischen Pioniers würdigen, sondern auch die Fragen nach Normalität, Krankheit und Gesundheit, Macht der Medizin und ihren alltäglichen Mißbrauch stellen und damit gesellschaftspolitische und philosophische Fragen berühren. Hartingers Werk erhält bei mir einen Platz unter meinen zehn wichtigsten, jederzeit griffbereiten Büchern.

Basaglia: "Krisen sind meistens ein Schritt zum Leben, die dann sinnlos, nutzlos sind, wenn der Staat für kritische Menschen oder Menschen in Krise künstliche Welten errichtet, Resevaten gleich." Psychiater, Psychotherapeuten, Psychologen und Soziologen gehören für ihn zu jenem Heer der getarnten Ordnungshüter, die gesellschaftliche Widersprüche abschleifen und Subjekte konditionieren, die Unterdrückung als ihr Glück anzunehmen. Bis heute ist die Diskussion nicht beendet. Österreichs "Unterbringungsgesetz" überläßt in vielen Bereichen dem Patienten die Entscheidung über den Krankenhausaufenthalt.

PROSAWETTER Entrechtungen - Schriften 72-94 Von Ingram Hartinger edition selene, Klagenfurt 1997 97 Seiten, kt., öS 198,

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