Erlösung durch Vernichtung

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Die ästhetische Religion der radikalen Avantgarde und ihre Verquickung mit den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts.

Kasimir Malewitsch sah sich als Begründer einer neuen Religion: "Viele Jahre lang war ich mit meiner Bewegung der Farben beschäftigt, während ich die Religion des Geistes beiseite schob; inzwischen sind 25 Jahre vergangen und nun bin ich zurückgekehrt oder in die religiöse Welt eingegangen. [...] Ich besuche Kirchen, blicke auf die Heiligen und die gesamte geistige Welt, und da sehe ich in mir, oder vielleicht in der ganzen Welt, dass der Wechsel der Religionen anbricht." Er suchte nach einem neuen Gottesbild, das er aus der Ikonografie der altrussischen Orthodoxie übernahm: "Mir kam in den Sinn, wenn die Menschheit sich ein Bild der Gottheit nach ihrem Bilde gemacht hat, dass dann vielleicht ein schwarzes Quadrat das Abbild Gottes als der Essenz seiner Vollkommenheit ist, auf dem neuen Wege des heutigen Anfangs."

Das Quadrat, der Kreis und das Kreuz auf schwarzem Hintergrund sind die Symbole der religiösen Kunst der alten russischen Orthodoxie: der weiße Hintergrund versinnbildlicht die Allegorie der Reinheit, der Heiligkeit und der Ewigkeit; die schwarze Farbe dagegen symbolisiert die Apokalypse: die Hölle, die Finsternis, den existentiellen Abgrund menschlicher Existenz. Der Suprematismus verkündet ein neues Evangelium in der Kunst.

Der Maler als Messias

Malewitsch arbeitete im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts an Studien für einen Zyklus Freskengemälde, in denen er sich selbst in der Gestalt Gottes dargestellt hat. Er identifizierte sich mit der Figur des Messias, der berufen ist, die Welt zu retten und zur Erlösung zu führen. Aufgrund dieser "Berufung" lehnt Malewitsch die traditionelle Malkunst ab und fordert einen total neuen Typus eines totalitären Priester-Künstlers: "Von nun an arbeitet der Künstler nicht mehr im Nacken der Ereignisse, er zeichnet nicht in kleinen Studien Handlungen von Kräften auf, der Maler ist ausgestorben wie der seinen Körper tätowierende Papuaner. Der Erfinder der Form wird zum Herrscher der Welt."

Der Künstler der neuen Zeit wird somit zum Totengräber einer dekadenten Welt und zum Demiurgen eines messianischen Zeitalters: "Wir werden eine neue Welt aufbauen und keine Träger der Formen Griechenlands und Roms sein, wir werden keine Trödelmarkthändler sein. [...] Tötet die Alten des Klassizismus und richtet eine neue Welt auf."

Konstruktivisten und KPdSU

Die Manifeste des Kasimir Malewitsch sind in Wirklichkeit die Rückkehr zu antimodernen Aufrufen einer messianischen Prophetie, einer säkular-religiösen Häresie der totalen Vernichtung des okzidentalen Geistes. In diesem Sinn kehrt Malewitsch letztlich zurück zu den gefährlichsten Totengräbern jeder humanistischen Kultur, den antiken Gnostikern, und begründet mit anderen Künstlern und Intellektuellen deren modernes Epigonentum.

Die Gnosis ist das faszinierendste Modell einer radikalen Weltverneinung, die sich in vielen Hochreligionen finden lässt. Die antike Gnosis geht von der völligen Verfallenheit der Welt, von einer misslungenen Schöpfung aus. Sie identifiziert die Materie mit dem radikal Bösen, mit der Welt der Finsternis, während ein Teil der Seele an der göttlichen Erkenntnis teilhaben kann und somit selbst göttlich ist. Dieser negativen Weltsicht entspricht ein antagonistischer Dualismus: einer kosmischen Dualität zwischen den Kräften des Lichtes und der Finsternis. Auf der einen Seite existiert eine a-kosmische, gute Gottheit und auf der anderen Seite ein niederer Schöpfergott (Demiurg), eine abgefallene Gottheit, die verantwortlich ist für die schlechte Welt und für das Verworfensein jeglicher Materie.

Gut und Böse, klar getrennt

Die Erlösung besteht in der Vernichtung der materiellen Welt und im Aufstieg der göttlichen Seelen. Sie sind nun nicht mehr in der materiellen Verderbtheit gefangen und erlangen ihre Erlösung als ein Gott-Werden des Menschen. An die Stelle der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes, tritt die Anthropodizee, die Selbstrechtfertigung und Entlastung des Menschen. Die Weltablehnung der Gnosis impliziert - als psychologisches Pendant - Allmachtbewusstsein. Dieses gnostische Gedankengut wird in verschiedenen Strömungen zu einem festen Bestandteil des abendländischen Denkens und darf als der theologische Kern der radikalen Moderne angesehen werden.

Gottfried Benn schrieb über den Futurismus: "Das Gründungsereignis der modernen Kunst in Europa war die Herausgabe des futuristischen Manifests von Marinetti." Es erschien am 20. Februar 1909 im "Figaro", darin stellte Filippo Tommaso Marinetti seine elf Thesen zur Aufforderung der Zerstörung der traditionellen Künste und über die Verherrlichung der Gewalt und des Krieges auf: "Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht [...] Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt - den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und für die Verachtung des Weibes."

Die russischen Konstruktivisten sahen sich als die ästhetische und intellektuelle Vorhut der radikalen Weltveränderung. "Der Künstler der Avantgarde, dem sich die äußere Welt in ein schwarzes Chaos verwandelt hat, steht vor der Notwendigkeit, eine neue Welt im Ganzen zu schaffen, und daher muss sein künstlerisches Projekt total, unbegrenzt sein. Folglich braucht er zu dessen Realisierung die totale Macht über die Welt - und vor allem die totale politische Macht, die ihm die Möglichkeit gibt, sich die ganze Menschheit oder zumindest die Bevölkerung eines Landes zur Erfüllung seines Vorhabens zu verpflichten." (Boris Groys)

Die Avantgarde fühlte sich berufen, die ästhetisch-politische Führung des sowjetischen Projekts zu übernehmen und sah sich als Speerspitze der Bolschewiki. Die Konstruktivisten konnten sich letztlich politisch nicht durchsetzen, und an deren Stelle trat der Sozialistische Realismus, jedoch mit den gleichen Zielen der totalen Umgestaltung von Mensch und Gesellschaft.

Expressionisten und NSDAP

Joseph Goebbels schrieb 1929 in seinem Roman "Michael" über den damaligen "Zeitgeist" und das "Wesen" der Deutschen: "Wir Heutigen sind alle Expressionisten. Menschen, die von innen heraus die Welt draußen gestalten wollen. Der Expressionismus baut in sich eine neue Welt. Sein Geheimnis und seine Macht ist die Inbrunst."

Auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten hielt Goebbels 1933 und 1934 öffentliche Lobreden auf den Expressionismus und verteidigte ihn gegen Alfred Rosenberg. Auf der ersten Sitzung der Reichskammer der bildenden Künste verkündete er, dass es "zu den Aufgaben des Nationalsozialismus gehört, den künstlerischen Beitrag des Expressionismus und der Abstraktion zur nationalen Revolution zu bewerten". Ernst Barlach, Ernst Heckel, Emil Nolde und Karl Schmidt-Rottluff wurden von Goebbels zur Sitzung eingeladen.

Ästhetik und Politik

Die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen der deutschen Kunst-Avantgarde und den Nationalsozialisten war unter diesen Aspekten vorstellbar, was sich auch aus den Reaktionen einiger Expressionisten zeigt. Der Maler Emil Nolde wurde Mitglied der NSDAP, der Architekt Walter Gropius trat der Reichskulturkammer bei, sein Kollege Mies van der Rohe arbeitete in mehreren Organisationen der Nationalsozialisten mit. Schon im Jahr 1934 unterzeichneten Ernst Barlach, Wilhelm Furtwängler und Mies van der Rohe einen öffentlichen Aufruf, "um nach Hindenburgs Tod Hitlers Kandidatur für den Posten des Reichspräsidenten zu unterstützen; er wurde im "Völkischen Beobachter" abgedruckt."

1933 wurde Edvard Munch von Goebbels anlässlich seines 70. Geburtstages als größter Maler Deutschlands ausgezeichnet und mit folgenden Worten geehrt: "Edvard Munchs Werke, nordisch-germanischer Erde entsprossen, reden zu mir vom tiefen Ernst des Lebens [...] Als kraftvoller, eigenwilliger Geist - Erbe nordischer Natur - macht er sich von jedem Materialismus frei und greift zurück auf die ewigen Grundlagen völkischen Kunstschaffens."

Selbst so erlauchte Köpfe wie Kandinsky wurden von der nationalsozialistischen Weltanschauung angezogen und bekannten sich zeitweise zu ihr. Die angeführten Beispiele können nicht nur als individuelle Verfehlungen Einzelner aufgefasst werden, sondern liegen tiefer. Die ästhetischen Religionen der Avantgarden und die politischen Religionen der Moderne haben in ihrem innersten Kern eine gemeinsame Theologie: die gnostische Heilsvorstellung von Erlösung durch Vernichtung.

Der Autor ist Dozent für Politikwissenschaft in Innsbruck, der Text eine gekürzte Fassung des Eröffnungsvortrages beim Symposium "Von der Romantik zur ästhetischen Religion" (Akademie der bildenden Künste, 8.-10. Mai)

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