Erzähltradition und Druckerpresse

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Grönland hat eine viertausendjährige mündliche Tradition. Die fabelhaften, abendfüllenden Erzählkünste gelten als nicht aufschreibbar und als unübersetzbar.

Wenn von Grönland die Rede ist, geht es im günstigen Fall um schöne Dinge wie Gletscherfjorde, Hundeschlittenfahrten und Eislandschaften. Oder, schon weniger angenehm, um den Klimawandel. Hier setzt Grönland bedenkliche Zeichen, denn in den letzten Sommern ist die Eisdecke des Inlandes unerwartet stark geschmolzen. Auch politische Neuigkeiten sind zu vermelden. Seit 2009 hat Grönland eine erweiterte Selbstverwaltung, die es unabhängiger von der ehemaligen Kolonialmacht Dänemark macht. Aber eine Selbstverwaltung muss bezahlt sein, und so rücken neben Fisch und Krabben verstärkt die reichen mineralischen Rohstoffvorkommen in den Blick der Regierung. Sie will den Rohstoffsektor entwickeln, internationale Konzerne haben längst ihre Territorien ausgespäht und im Fjord von Nuuk wurde im Oktober 2013 ein riesiger Eisenerztagebau genehmigt. Demnächst werden also 3000 chinesische Arbeiter eine Grube mit eigenem Kraftwerk und Hafen errichten, was den nur 16.000 Einwohnern der Landeshauptstadt gewisse Sorgen bereitet. Dabei hat die gut durchmischte grönländische Gesellschaft reichlich Erfahrung mit dem Kulturkontakt. Er hat ihr neben dänisch-grönländischen Elternpaaren, dänischen Priestern, Lehrern, Ärzten, Beamten und den täglichen Waren aus dem Grönlandhafen von Aalborg auch eine eigene Literatur gebracht.

Mündlich und schriftlich

Zum einen - Eskimomärchen! Diesen Titel trägt eine Sammlung alter Mythen und Märchen in deutscher Übersetzung von Gisela Perlet. Sie kommen aus einer viertausendjährigen mündlichen Tradition und waren im ganzen arktischen Kulturraum verbreitet. Oft sehr witzig und bizarr, besonders wenn sie zum Genre der "Oqalualaaruti“ gehören, sind das Geschichten, die der Fantasie der Erzähler viel Spielraum lassen. Im Gegensatz zu den "Oqalluttuat“, den "wirklich alten Geschichten“, die wörtlich wiederholt werden. Ob es wirklich Texte gibt, die auf einer ungebrochenen Überlieferung beruhen, ist schwer zu sagen. Aber es ist nicht schwer, in den alten Erzählungen die uralte Inuit-Kosmologie zu erahnen. Sie berichten vom Wirken der Schamanen (Angakok) mit ihren Hilfsgeistern, von der ununterbrochenen Jagd auf Robbe, Wal und Rentier, von der Magie des kosmischen Geistes Inua oder von Sedna, der Mutter des Meeres, der alle Menschen (Inuit) ihr Leben und Überleben verdanken.

Die Schriftkultur beginnt in Grönland Mitte des 19. Jahrhunderts und ist schon zu ihren Anfängen ein Produkt der kulturellen Mischung. Viele der alten Mythen und Erzählungen wurden in grönländischer Sprache niedergeschrieben, von den Grönländern selbst, die schon bald nach der Ankunft der ersten Missionare (um 1720) lesen konnten und seit 1847 eine eigene Grammatik hatten. Die wiederum stammte von dem deutschstämmigen Missionar Samuel Kleinschmidt, und gesammelt wurde die grönländische mündliche Literatur zuerst im Auftrag des dänischen Kolonialinspektors Johannes Rink (1819-1893). Rink hat sogar eine Vierfarbdruckerpresse nach Godthaab gebracht und druckte 1861 die erste Ausgabe der Grönlands-Post, einer Wochenzeitung, die es heute noch gibt.

Skurrile Geschichten

Die wichtigsten Mitarbeiter Rinks waren Jens Kreutzmann (1828-1898) und Aron von Kangeq (1822-1869). Jens Kreutzmanns Vater war ein dänischer Kolonieverwalter, seine Mutter eine Grönländerin, Arons Vater war ein grönländischer Katechet im Dienst der Herrnhuter Missionsgemeinde, ebenso wie später sein Sohn. Sie gehören somit zur Oberschicht der Kolonie mit Wurzeln in beiden Kulturen, und sie zeugen schon zu ihrer Zeit von der bleibenden Spannung der zwei Geschwindigkeiten: während Aron und Kreutzmann die alten Geschichten aufschrieben, die ihnen vor Ort lang und breit erzählt wurden, klapperte schon Rinks Druckerpresse, um sie in den Takt der Moderne zu übertragen.

Kreutzmann und Aron haben aber auch eigene Geschichten geschrieben und gelten heute als wichtige Nationalschriftsteller. Sie haben einiges zu bieten, denn sie sind Zeugen einer Zeit, von der es sonst nur die Schriftzeugnisse der Dänen und der deutschen Missionare gibt. So berichten sie von einer nicht immer loyalen Bevölkerung der dänischen Kolonien, deren Christianisierung nicht ganz so reibungslos verlief wie in manchen Mythen der Missionare. Das zeigen einige der witzigsten und skurrilsten Geschichten, wenn es etwa darum geht, ob ein großer Angakok sich der neuen Macht beugt oder eben nicht, wenn der berüchtigte Lustmörder Iserassoraq ganz unchristlich alle Kajakfahrer ermordet, die ihm begegnen, um sich mit ihren Frauen zu vergnügen, oder wenn die "Propheten im Ewigkeitsfjord“ lieber eine eigene Sekte gründen.

Grönländische Literatur gibt es in zwei Sprachen, und nicht wenige ihrer modernen Romane thematisieren Kolonialzeit und Emanzipation auf Dänisch. Das ist nun keine Weltsprache, aber sie hat Reichweite, weil aus ihr in andere Sprachen übersetzt wird, die Grönländer bis jetzt leider selten. Vielleicht könnten Jens Kreutzmann und Aron von Kangeq auf diesem Gleis in die literarische Welt gelangen, denn die Philologin Kirsten Thisted hat sämtliche ihrer Texte aus dem Grönländischen ins Dänische übertragen, drei großformatige Bände, die neben den Erzählungen auch die Aquarelle und Zeichnungen der beiden Nationalschriftsteller enthalten.

Dänisch und Grönländisch

Der in Kopenhagen lebende Schriftsteller Ole Korneliussen wendet ein: "Viele der grönländischen Geschichten werden zerstört, wenn sie niedergeschrieben werden. Wenn Aron und Kreutzmann schreiben, dann gibt es einen Punkt und dann ist Schluss.“ Aber der Einspruch betrifft im Wesentlichen die alte Tradition. Von der Weltliteratur bleiben die fabelhaften, abendfüllenden Erzählkünste in der Originalsprache ohnehin ausgeschlossen, schon die Transkription ergibt allenfalls ein Skelett der Wörter, in der Übersetzung wird die Authentizität noch weiter reduziert. Andererseits eröffnen die Autoren des 19. Jahrhunderts eine neue Tradition im geschriebenen Wort, und sie ist ein geistiges Erbe des modernen Grönländers, das zu kennen sich lohnt.

Im Nationalmuseum von Nuuk erzählt der Eskimologe Bo Albrechtsen von jener eigenartig bikulturellen Identität des Grönländers: "Es gibt diese Geschichten von den ersten Katecheten der Kirche im 18. Jahrhundert. Das waren Katecheten zur Kirchzeit und Geisterbeschwörer, sobald sie draußen waren. Dieses Doppelspiel, der Ritt auf zwei Pferden zieht sich durch die ganze Geschichte.“ Es ist auch für die Literatur immer ein Ritt auf zwei Pferden gewesen. Auf dem dänischen Schimmel und dem grönländischen Rappen, und das geht so bis heute. Ein lebendes Beispiel ist Ole Korneliussen selbst, der seit über 40 Jahren in Kopenhagen lebt. Er schreibt seine Romane und Erzählungen auf Grönländisch und auf Dänisch. Für ihn klärt sich die Identitätsfrage so: "Wenn ich auf Grönländisch schreibe, dann bin ich ein grönländischer Autor. Wenn ich auf Dänisch schreibe, bin ich ein dänischer Autor“.

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