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Nach "Bildungskatastrophe" und Ausrufung des "Erziehungsnotstandes" in Deutschland ist Umdenken angesagt.

Am Anfang war ein neuzeitlicher Mythos, der sich in die Aufklärung eingeschlichen und die Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, Unverdorbenheit und das Gutsein der Kinder angenommen hatte. Für die Psychotherapeutin Alice Miller ("Am Anfang war Erziehung", 1980) war Pädagogik immer "schwarz" und Erziehung eine "Bekämpfung und Verfolgung des Lebendigen im Kind". Miller wandte sich deswegen gegen jede Art von Erziehung überhaupt, auch gegen die antiautoritäre.

Nun schlägt das Pendel in die andere Richtung. Doris Köpf, Ehefrau von Bundeskanzler Gerhard Schröder, forderte, Kinder wieder strenger zu erziehen und ihnen Werte wie Fleiß, Pflichtbewusstsein, richtiges Benehmen und Verlässlichkeit beizubringen - so genannte "Sekundärtugenden", die Oskar Lafontaine aus derselben SPD noch in den achtziger Jahren abwertete, da man "mit denen auch ein KZ betreiben kann". Deutschland "im Jahr zwei nach dem Pisa-Schock" (Der Spiegel): Die einen finden die Schuldigen in den inkompetenten Lehrerinnen und Lehrern; andere führen die schlechten schulischen Leistungen auf den Verlust dieser Sekundärtugenden zurück.

Erziehung findet nicht statt

Die Wurzeln der "Bildungskatastrophe"sehen Petra Gerster und Christian Nürnberger im "Erziehungsvakuum": "Viele Kinder werden heute nicht mehr erzogen. Viele Eltern sind unfähig, nicht willens oder - wegen Berufstätigkeit - nicht in der Lage, ihre Kinder zu erziehen. Und eine wachsende Zahl von Eltern scheint ihre Gleichgültigkeit und Nicht-Erziehung mit Liberalität und Toleranz zu verwechseln." Schulen und später Universitäten seien überfordert und nicht in der Lage, den vernachlässigten, abgeschobenen, verzogenen, verwöhnten, vaterlosen, überindividualisierten und gewalttätigen Jugendlichen mit "ADS" (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) auch nur Restbestände an Bildung zu vermitteln.

Kann man die Streitschrift einer ZDF-Moderatorin und eines Journalisten als unwissenschaftlich abtun, so ist das unmöglich bei der Therapeutin Jirina Prekop ("Der kleine Tyrann"), die wie Miller auf eine langjährige Praxis zurückblickt - aber im Gegensatz zu jener mit Kindern, nicht mit Erwachsenen. Prekop schildert die Extremfälle herrschsüchtiger Kinder, die ihre Eltern schikanieren, tyrannisieren, beschimpfen und oft genug schlagen, beißen oder treten. Ausgangspunkt sind die Lebensbedingungen der modernen Industriegesellschaft, die es der Mutter erlauben, sich mit ihrer Familie dem Kind - oft dem Einzelkind - anzupassen. "Aus leicht einzusehenden Gründen trägt gerade der auf der modernen Technologie beruhende Komfort und das Konsumüberangebot dazu bei, dass das Kind statt seine Anpassung an die Umwelt die Anpassung der Umwelt an seine Person erlebt." In der Theorie sehen die Eltern das Kind als gleichberechtigt und ebenbürtig, in der Praxis bekommt das Kind nur die Rechte, auf die die Eltern ihrerseits verzichten, während sie sich mit Pflichten überfrachten. Das Kind empfindet nun seine Eltern als schwach und manipulierbar, leidet unter dem Verlust von Geborgenheit, Orientierung und Vertrauen und reagiert mit Aggressivität. Die Herrschsucht wird Ersatzmittel: "Im Grunde ist es ein verzweifelter Versuch des Kleinkindes, sich in dieser stark verängstigenden Welt sicherer zu fühlen, indem es diese beherrscht. Ein Abwehrsystem gegen das Chaos."

Eltern als "Waschlappen"?

Prekop plädiert für mehr Halt, Autorität und Disziplin in der Erziehung und wird dabei von der US-Amerikanerin Judith Rich Harris unterstützt, die moderne Eltern als "Waschlappen" bezeichnet, weil sie ihre Autorität so zögernd - oder gar nicht - ausüben. Harris geht es in erster Linie aber darum, den Mythos von der Allmacht der Eltern zu entzaubern. Haben Eltern irgendeine Langzeitwirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung ihres Kindes? Dieser Artikel prüft alle Argumente und kommt zu dem Schluss, die Antwort laute: Nein. Mit diesen Worten provozierte Harris die Wissenschaft in einem Artikel für die Zeitschrift Psychological Review.

Langzeitwirkung der Eltern?

In ihrem Buch sind die entscheidenden persönlichkeitsbildenden Faktoren die Gene und der Einfluss der peer group, d.h. der Gleichaltrigen. Die Eltern selbst hätten insgesamt viel weniger Einfluss, als bisher angenommen wurde - wenn auch in manchen Bereichen. So spendet Harris auf über 600 Seiten unterschwellig allen Eltern Trost: Wenn's mit der Tochter oder dem Sohn schiefgehen sollte, sind weniger Schuldgefühle angebracht.

Miller schrieb, die Freiheit der Eltern setze dem Kind natürliche Grenzen. Grenzen müssen also sein - aber wo genau verlaufen sie? Mit abstrakt formulierten Definitionen ist Eltern oder Lehrerinnen wenig geholfen, die nicht philosophische Weisheiten, sondern ein nützliches Handbuch für den alltäglichen Überlebenskampf brauchen. Es ist wohl kein Zufall, dass diese Handbücher aus den pragmatisch orientierten Vereinigten Staaten kommen. Eleanor und Linda Siegel erklären ratlosen Eltern ganz konkret, wie sie es machen könnten und sollten. Jedes Kapitel bietet ein bestimmtes Problem ("Can we discipline without spanking?"), um dann ein Ziel ("Learn which nonphysical techniques work") und verschiedene Erziehungsmittel und -kniffe vorzuschlagen.

Ein ähnlich alltagsbezogenes Handbuch für Lehrerinnen und Lehrer bieten Gerold Becker und sein Autorenteam. Sie gehen von der Grundüberzeugung aus, Disziplin sei "nicht nur eine Bedingung für gemeinschaftliche Leistungen, sondern selbst eine Gemeinschaftsleistung." Entsprechend betonen sie die Rolle der Kooperation aller Beteiligten sowie Rahmenbedingungen wie die Gestaltung des Schulklimas, die Einbeziehung der Schülervertretung oder die Bildung eines "Klassenrates". Daneben wird Schülerdisziplin natürlich auch durch Lehrerkompetenz gefördert, deren wichtigste Aspekte Jacob Kounin bereits 1970 in einer empirischen Studie treffend analysiert hat.

Österreich: Zeitbombe tickt

In Österreich ist bis heute eine umfassende öffentliche Diskussion ausgeblieben, obwohl auch hier die Zeichen auf Sturm stehen. Unlängst berichtete der Standard von der Rückkehr der "G'sunden Watsch'n": Die Zahl der Mütter und Väter, die von ihren eigenen Kindern geschlagen werden, ist im Steigen. Der Kinderpsychiater Max Friedrich meinte dazu in einem Standard-Gespräch: "Viele Eltern leiden heute unter einem Autoritätsverlust. Eltern geben ihrem Nachwuchs bis zu einem gewissen Alter fast alles, die Kinder lernen nicht mehr, zu verzichten." Zu spät, nämlich am Beginn der Pubertät ihrer Kinder, wollten die Eltern dann in einem verzweifelten Versuch noch Grenzen setzen. Michael Fleischhacker schrieb in der Presse: "Fasst man zusammen, was Praktiker und Theoretiker über die Situation der Kinder in unserer Gesellschaft berichten, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in unserer Mitte eine Zeitbombe tickt." Neben der Zunahme an Gewalt (gegen Kinder und Jugendliche, aber eben auch von diesen) häufen sich Fälle von Depressionen bei Kindern.

Im Zweifel gegen die Schule

Hier stellt sich die Frage: Haben wir wirklich in Österreich keine Diskussion nötig? Oder müssen wir erst auf schockierende Ergebnisse bei PISA oder spektakuläre Fälle warten, um uns dann gegenseitig (und im Zweifelsfall den Lehrerinnen und Lehrern) die Schuld zuzuweisen?

Zu diskutieren gäbe es genug: über Erziehungswerte, die eingangs genannten Sekundärtugenden und das Verhältnis beider zueinander; über den Trend, von der Institution Schule immer mehr Erziehungsarbeit zu erwarten (was nur auf Kosten der Bildung und Ausbildung geschehen kann - und auf Kosten der Lehrerinnen und Lehrer, bei denen psychischen Probleme häufiger werden); über die Dominanz ideologischer Denkmuster bei Diskussionen über Werte, Tugenden und Erziehungsziele. Die österreichische Diskussionskultur zeichnet sich in Fragen der Pädagogik dadurch aus, dass nicht diskutiert wird, sondern reflexartig die Positionen der anderen ideologischen Lager abgelehnt werden.

Buchtipps

DISZIPLIN

Sinn schaffen - Rahmen geben - Konflikte bearbeiten. Von Gerold Becker u. a. Friedrich Jahresheft Bd. 20, 2002.

KINDER INS LEBEN BEGLEITEN.

Vorbeugen statt Therapie. Von Max H. Friedrich.

Öbv & Hpt, Wien 2003. 144 Seiten. e 13.20.

DER ERZIEHUNGSNOTSTAND

Wie wir die Zukunft unserer Kinder retten. Von Petra Gerster und Christian Nürnberger.

Rowohlt-Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2003. 283 Seiten, kart., e 9.20

IST ERZIEHUNG SINNLOS?

Warum Kinder so werden, wie sie sind. Von Judith Rich Harris. Aus dem Amerikanischen von Wiebke Schmaltz.

Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002. 669 Seiten, kart., e 13.30

KEYS TO DISCIPLINING YOUR YOUNG CHILD. Von Eleanor und Linda Siegel.

Barron's Educational Series, Hauppauge, NY 1993, 181 Seiten.

Der Autor unterrichtet am Wiener Wasagymnasium, ist Dozent an der Universität Wien und Vater von drei verhaltensoriginellen Kindern.

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