"Es braucht erzieherisches Ringen"

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Der Schweizer Pädagoge Fritz Oser über das mühsame Aushandeln von Regeln - und sein Plädoyer für neue Kinderrechte auf Bildschirmfreiheit, Religiosität und Schutz vor sich selber. | Das Gespräch führte Doris Helmberger

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Der Schweizer Pädagoge Fritz Oser über das mühsame Aushandeln von Regeln - und sein Plädoyer für neue Kinderrechte auf Bildschirmfreiheit, Religiosität und Schutz vor sich selber. | Das Gespräch führte Doris Helmberger

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Fritz Oser hat sich als Professor für Pädagogik und Pädagogische Psychologie an der Universität Fribourg (Schweiz) jahrelang mit der Frage beschäftigt, wie Kinder "Recht" und "Moral" lernen. Ein Gespräch über die Aktualität von Janusz Korczaks Regelwerk und die Notwendigkeit neuer Kinderrechte in Familie und Schule.

Die Furche: Janusz Korczak hat mit "Kinderparlamenten" und "Kameradschaftsgerichten" die Pädagogik revolutioniert. Wie bedeutsam sind seine Konzepte heute?

Fritz Oser: Sehr bedeutsam. Diese Form der Mitbestimmung wird ja auch weiterhin angewendet - nicht nur in den "Just Community"-Schulen in der Schweiz und Deutschland, die ich mit Lawrence Kohlberg gegründet habe (1987 verstorbener US-amerikanischer Pädagoge, der die Stufentheorie der Moralentwicklung begründete; Anm.), sondern auch in vielen anderen Schulen. Wobei man bei den "Kindergerichten" betonen muss, dass sie immer darauf ausgerichtet waren und sind, dass die Kinder einander verzeihen. Überhaupt muss man zwischen Korczaks Kinderrechten und den späteren UN-Kinderrechten deutlich unterscheiden: Letztere sind wichtig als Grundschutz für das Kind, etwa gegen Pädophilie, Verwahrlosung oder Kinderarbeit -und sie sind justiziabel, es kann also jemand wegen Nichteinhaltung belangt werden. Bei Korczaks "Recht auf den heutigen Tag" oder dem "Recht, ein Geheimnis zu haben" geht es hingegen um eine Erziehungslehre, die das Kind in seiner Entwicklung stärken will.

Die Furche: Sie erforschen seit Jahren die Dynamiken, durch die Kinder lernen, Regeln einzuhalten. Was unterscheidet das Wechselspiel von Rechten und Pflichten, das Ihnen vorschwebt, von der Forderung "Kinder brauchen Grenzen!", wie sie etwa Jan-Uwe Rogge und andere formulieren?

Oser: Der Grenzensetzungs-Ansatz ist ein top-down-Ansatz, bei dem ein Lehrer oder ein Schulleiter etwas vorgibt - und die Kinder das dann einhalten, wenn sie die Autorität der Person anerkennen. Mein Modell, das ich "Stop und Change" nenne, ist hingegen kommunikativ und arbeitet von unten, also bottom-up. Es reicht ja nicht, ein unerwünschtes Verhalten einfach zu unterbinden, sondern hier beginnt ja erst die erzieherische Herausforderung, das Kind durch einen Prozess des Begründens, Rechtfertigens und Entschuldigens zur Einsicht zu bringen, dass diese Regelübertretung für niemanden gut ist. Diese Dynamiken interessieren mich -und sie haben viel mit dem Recht des Kindes zu tun, sich zu entwickeln und in Krisen begleitet zu werden.

Die Furche: Sie haben für Familien und Schulen, die Sie heute als "Emergency Rooms" bezeichnen, weil in ihnen ständig Konflikte bearbeitet werden müssen, noch weitere notwendige, neue Rechte formuliert. Können Sie uns einige davon nennen?

Oser: Eines dieser neuen Rechte wäre etwa das Recht, vor bestimmten Gefahren bewahrt zu werden - etwa jenen durch den Fernseher oder digitale Medien. Wir wissen ja aus vielen Untersuchungen, dass das Fernsehen - und Smartphones bzw. Tablets noch verschärft - viele schädliche Bilder in die Seele des Kindes transportieren. Wobei es nicht darum geht, Bildschirme völlig zu verbieten, aber es darf auch nicht sein, dass Eltern ihr Kind stundenlang diesen Medien aussetzen, damit sie selber Ruhe haben. Genau hier braucht es diese Aushandlungsprozesse, dieses erzieherische Ringen.

Die Furche: Welche Rechte bräuchte es noch?

Oser: Etwa das Recht des Kindes, Natur zu erleben; oder das Recht, vor sich selbst geschützt zu werden. Ein schönes Beispiel dafür ist das Essen: Kinder möchten ja oft Sachen essen, die nicht gesund sind. Man sollte sie demgegenüber in der Kontrolle ihrer Emotionen stärken. Es sollte auch das Recht geben, eine Rolle im Ganzen der Klasse oder Schule zu spielen und nicht ausgeschlossen zu werden. Wir haben ja in Studien zu Cybermobbing gesehen, dass bis zu 26 Prozent der Kinder solche Opfererfahrungen machen. Hier können sensible Lehrpersonen große Schutzwirkung erlangen. Schließlich bräuchte es auch das Recht des Kindes, zu Dingen motiviert zu werden, deren Sinn es noch nicht ganz einsieht -etwa zu Durchhaltewillen, Musikunterricht oder religiösem Verhalten. Es ist zwar einfach, zu sagen: Das Kind will das jetzt nicht, es soll später selbst entscheiden, aber wenn wir dem entsprechen, lassen wir das Kind eigentlich fallen und übernehmen keine Verantwortung.

Die Furche: Aber warum wäre es wichtig, Kinder mit Religion zu konfrontieren?

Oser: Weil ein befreiender Zugang zu religiösen Fragen und Haltungen es dem Kind ermöglicht, dass ihm die Fragilität des Menschseins bewusst wird - und es zugleich Botschaften erhält, die ihm Hoffnung geben können. Ob das in einem konfessionellen oder nichtkonfessionellen Ansatz geschieht, ist eine andere Frage. Aber die Tendenz, dass man -wie etwa in der Schweiz - alles Religiöse an den Rand drängt und meint, das gehöre zur Kultur der Ineffizienz und sei nicht mehr nötig, halte ich für problematisch.

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