"Es fehlen die Vorbilder für die Jugendlichen"

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"Das kompetente Kind" heißt der Bestseller des dänischen Familientherapeuten Jesper Juul. Im Gespräch mit der furche erklärt Juul, wie Eltern, Pädagogen und Politiker auf exzessives Trinken bei Jugendlichen reagieren können.

Die Furche: Wo sehen Sie Ursachen für das Phänomen Kampftrinken?

Jesper Juul: Viele Faktoren spielen hier zusammen. Ein wesentlicher Faktor ist, dass Eltern in den letzten Jahrzehnten unsicher waren, wie sie ihre Führungsrolle ausüben sollen. Daher hatten sie sehr wenig Einfluss darauf, wie junge Leute dachten und was sie taten. Es ist auch eine Frage der Rollenvorbilder. Es gibt keine richtigen Vorbilder für Jugendliche. Ich würde sagen, dass 90 Prozent aller Jugendlichen die Konsequenzen ihrer Handlungen nicht richtig abschätzen können. Sie denken einfach nicht daran. Die gravierendste Ursache aber ist die Art und Weise, wie Familien und Schulen funktionieren, sie bereiten die Kinder einfach nicht aufs Leben vor.

Die Furche: Was sollen die Verantwortlichen also tun?

Juul: Ich würde vermuten, dass die österreichische Regierung nun Anti-Alkohol-Kampagnen in Schulen machen wird, wie es schon seit vielen Jahren gemacht wird; es werden Kampagnen gegen Alkohol, Essstörungen, Mobbing und weiteres gemacht. Und dann meint jeder, es ist etwas geschehen. Manchmal hilft es wirklich, aber nur kurzfristig. Ich schlage vor, dass Politiker, Pädagogen und auch Marketing-Experten einen neuen Ansatz einbringen: Wir müssen Kinder großziehen, die ihr Leben wertschätzen. Es sollen Pro-Life-Kampagnen gemacht werden. Kindern wird zur Zeit gelehrt, dass sie dann gut sind, wenn sie Autoritäten gehorchen. Gute Schüler werden als jene definiert, die still sitzen können, lernen und antworten, wenn sie gefragt werden, und sich die restliche Zeit ruhig verhalten. Auf diese Weise werden aber nur Opfer von Autoritäten geschaffen. Im Fall des Kampftrinkens ist die Autorität die Gruppe oder der Trend. Wir hatten die gleiche Debatte vor einigen Jahren auch in Dänemark, nun ist dieser Trend mehr oder weniger vorbei.

Die Furche: Wie wurde in Dänemark vorgegangen?

Juul: Viele Eltern nahmen ihre Aufgabe nun ernst, sie setzen Beziehung anstelle von Autorität. Sie sagen nicht mehr: "Wir verbieten dir das", und werden moralisierend. Sie sagen nicht mehr, was die Kinder tun sollen und was nicht, sondern sie tun zum Beispiel das Folgende: Wenn es eine große Party gibt, dann sind die Eltern dort. Eltern sind auf den Straßen und bei Festhallen präsent. Und was immer Sie jetzt denken mögen: Die Kinder lieben es. Sie wollen nicht, dass ihre eigenen Eltern sie verfolgen oder bewachen, aber sie wollen, dass Eltern sichtbar sind, damit sie sich sicherer fühlen.

Die Furche: Jugendliche wollen, dass Eltern dabei sind, wenn Sie ausgehen? Schwer zu glauben …

Juul: Sie wollen nicht, dass ihre Eltern sie kontrollieren; sondern dass sie Teil des gesamten Bildes sind, der gesamten Gruppe von Eltern, die in den Straßen herumgehen. Es ist eine sehr gute Initiative, weil Eltern bewusst wird, dass sie Werte und Meinungen haben dürfen. Viele Eltern haben Angst davor und sind unsicher, wie sie diese Werte und Meinungen kommunizieren können, wenn es ein Verbot eben nicht sein soll. Die Verunsicherung ist nicht überraschend, denn sie selbst hatten nie ein Vorbild. Ihre eigenen Eltern sagten einfach: das darfst du nicht machen; und sie taten es trotzdem.

Die Furche: Wenn Eltern bei ihren nächtlichen Touren beobachten, dass sich ein Kind "zuschüttet", sollen sie intervenieren?

Juul: Ja, die Art der Intervention ist dann entscheidend. Wenn ein Jugendlicher oft viel zu viel trinkt, dann heißt das fast immer, dass er Kummer hat. Es gab in seiner Familie keine Tradition für Dialog. Und genau dieser muss dann beginnen, keine Diskussionen oder Verhandlungen; das erste Gespräch sollte nicht über Alkohol, sondern über die Beziehungen in der Familie geführt werden. Es geht vor allem darum, in Beziehung zueinander zu bleiben, gerade dann, wenn nicht alle Bedürfnisse erfüllt werden können. Kinder lernen so mit einem Nein in der Sache umzugehen, weil sie das Ja zu ihrer Person spüren. Viele Erwachsene kennen diesen wichtigen Unterschied aber selbst noch nicht, weil sie ihn als Kind nicht erlebt haben. In vielen Familien hat es nur Fragen, Anweisungen, Korrekturen und Kontrolle gegeben. Viele Eltern sind daher zuwenig in der Lage, mit ihren Kindern über Drogen, Alkohol und Sex in Form eines Dialogs zu sprechen. Die Eltern-Initiativen führen nun dazu, dass ein Dialog begonnen hat; in Dänemark geht die Entwicklung nun in die richtige Richtung.

Die Furche: Was führte dazu?

Juul: Es ist eine Kombination vieler Faktoren, aber das Wichtigste ist, dass wir anfangen müssen, ernsthaft in Familien, Schulen und Kindergärten zu arbeiten; und zwar wie man Kinder lehren kann, ihre eigene Integrität zu bewahren, und wie wir als Erwachsene zur Entwicklung des Selbstgefühls beitragen können (siehe Erklärung Artikel unten; Anm.). Denn wenn wir das tun, dann kann es vorkommen, dass Jugendliche ein-, zweimal trinken wie verrückt, aber dann nicht mehr, und dasselbe gilt für andere Arten des Missbrauchs. Die richtige Balance zwischen Autorität, Kontrolle und Vertrauen zu finden, ist extrem schwierig. Niemand hat es bisher im breiten Ausmaß versucht. Die Welt ist zugleich gefährlicher und freier geworden. Mit der Freiheit kommt die Verantwortung für sich selbst. Aber die meisten Kinder haben Eltern, die für sich selbst keine Verantwortung tragen können.

Die Furche: Was würden Sie Eltern also raten, deren Kind immer wieder exzessiv trinkt und wo keine Kommunikation mehr da ist?

Juul: Ich würde sagen, holen Sie professionelle Hilfe, denn ich weiß, dass der Wunsch nach Kommunikation vom Kind geteilt wird. In vielen Familien, in denen ein solches Problem auftaucht, hat schon seit längerem kein Dialog mehr stattgefunden, und man kann keinen Dialog in einer Kampfsituation wieder eröffnen. Das ist wie ein Paar, das lange keinen Sex hatte. Das Problem kann man auch nicht damit lösen, dass der eine den anderen vergewaltigt. Man muss Vertrauen und Nähe erst wieder aufbauen, bevor man den Dialog eröffnet.

Die Furche: Was können und sollen Pädagogen tun?

Juul: Viele Lehrer fühlen sich in derselben Weise verloren wie die Eltern. Sie wissen nicht, wie sie ihre Autorität ausüben sollen, und wenn sie es versuchen, dann funktioniert es nicht, also geben sie auf. Sie müssen Beziehungskompetenzen lernen, eine ganz neue Fähigkeit. Oft kommt dann der Einwand: Kinder müssen dann und wann gehorsam sein. Ja, da stimme ich zu. Aber als Erwachsener muss man sich entscheiden, ob man diesen Gehorsam auf Angst oder auf Respekt und Vertrauen baut. Die Lehrer wurden lange allein gelassen, sie sind eine vernachlässigte Gruppe in der Gesellschaft.

Die Furche: Und die dänischen Lehrer?

Juul: Diese haben sich verändert. Es gibt immer mehr Lehrer, die für ihr Verhalten Verantwortung übernehmen, die in einen Dialog mit den Kindern eintreten und auch Feedback von ihren Schülern annehmen, auch ein kritisches. Zunehmend sagen Lehrer: für das Klima in meiner Klasse bin ich verantwortlich, nicht die Eltern und nicht die Kinder. Wir arbeiten seit 25 Jahren beratend an Schulen. Nun gibt es immer mehr Schulen, die nach diesem Konzept arbeiten. Es geht darum, eine bedeutungsvolle persönliche Beziehung mit jedem Schüler zu entwickeln.

Das Gespräch führte Regine Bogensberger.

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