Es geht nicht um Sieg oder Niederlage

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* Im heftigen Streit um das richtige Erinnern an die Vertreibungen reden Deutsche und Polen aneinander vorbei, analysiert "Die Welt".

Das Thema Vertreibung, vom Mainstream der siebziger und achtziger als politisches und moralisches Schmuddelkind an den Rand gedrängt, ist so auf breiter Fläche zurückgekehrt: Nicht als ein Remake der fünfziger Jahre, als sich Deutschland mit dem Verweis auf die eigenen Opfer aus der Verantwortung für die Opfer der Deutschen zu stehlen versuchte. Vielmehr wird der bisher dominierenden Geschichtsinterpretation von den Deutschen als dem "Täter-Volk" eine weitere Dimension hinzugefügt. Neben der Schuld, die die Deutschen auf sich geladen haben, können die neuen Generationen, die keine persönliche Verantwortung mehr tragen, auch das Leid wahrnehmen, das Deutschen als Antwort zugefügt wurde. Ihr Rückblick dient weder dazu, Ansprüche auf alte Besitztümer in verlorenen Gebieten zu erheben, noch die "Vertreiberstaaten" anzuklagen. Vielmehr geht es darum, weiße Flecken in den eigenen Biografien zu füllen und die eigene Gewordenheit besser zu verstehen. Das wirkt befreiend und das zeugt von Reife. […]

Noch laufen die Debatten in Deutschland und in Polen aneinander vorbei. Deutschland diskutiert über Vertreibung als eine weitgehend existenzielle Erfahrung, die in eine differenziertere Geschichtsbetrachtung einfließen soll. Polen fühlt sich beim Thema Vertreibung der Deutschen zu einer Verteidigung eines kollektiven Opfer-Geschichtsbildes aufgerufen, das keine Differenzierung und Umwertung zulässt.

In Polen gelten noch Regeln wie auf dem Fußballfeld

Anstatt Räume zuzulassen, in denen neben den historischen Fakten auch die schmerzlichen, teilweise gegenläufigen Erfahrungen ausgetauscht werden könnten und wir uns gegenseitig in dem jeweiligen Schmerz respektieren lernten, gelten in der polnischen Öffentlichkeit Regeln wie auf einem Fußballfeld. Sieg oder Niederlage, heißt die Frage, wo es gar nicht um Sieg oder Niederlage gehen kann, sondern um Lösungen, die den unterschiedlichen Erfahrungen gerecht werden, ohne eine Seite zu verletzen.

Rolle des Täters ist nicht an eine Nation gebunden

Bezeichnenderweise erfasste die Mehrzahl der polnischen Kommentatoren den Verzicht von Erika Steinbach im Stiftungsrat des geplanten Zentrums "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" in Kategorien von der gewonnen oder verlorenen Schlacht. Für die Einen hat Tusk "gepunktet", wenigstens ein Remis erreicht, nachdem er der Bundesregierung zuvor die Gründung eines Zentrums gegen Vertreibungen mit "wohlwollender Neutralität" zugestand. Die Anderen hingegen sprechen von einem "Pyrrhussieg", weil der Kern des Streits, das Museum zum Gedenken an die Vertreibung der Deutschen, nach wie vor nicht verhindert werden konnte. Bis jetzt hat Polen eine Betrachtung der Vertreibung unter dem Blickwinkel der existenziellen Erfahrung verweigert. Schon die "Gleichsetzung des Leids von Opfern der Deutschen mit den deutschen Opfern" wird als nationaler Verrat interpretiert. […]

Wir würden eine Möglichkeit der Annäherung verspielen, wenn wir ähnliche existenzielle Erfahrungen nicht berücksichtigten. Polnische Historiker haben diesen Weg bereits im letzten Jahr eingeschlagen, als sie einen Atlas herausbrachten, in dem der Heimatverlust von Polen, Juden und Ukrainern, aber auch von Deutschen dargestellt wird. Vielleicht lernen wir doch langsam, was Louis Begley, der überlebende Jude und späte Schriftsteller, in die knappen Worte gefasst hat: "Wir müssen unbedingt lernen, im Fremden unseren Bruder, unsere Schwester zu sehen." Weder die Rolle des Täters, noch die Rolle des Opfers ist prinzipiell an eine Nation gebunden.

* "Die Welt", 6. März 2009

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