"Es ist gut, sterblich zu sein "

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Seine Geschichte hat er im "Roman eines Schicksallosen" erzählt: Imre Kertész überlebte Auschwitz und Buchenwald. Am 31. März ist der ungarische Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger in seiner Geburtsstadt Budapest gestorben. Ein Nachruf.

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Seine Geschichte hat er im "Roman eines Schicksallosen" erzählt: Imre Kertész überlebte Auschwitz und Buchenwald. Am 31. März ist der ungarische Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger in seiner Geburtsstadt Budapest gestorben. Ein Nachruf.

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Die Geschichte von Imre Kertész ist die Geschichte seines Buches "Roman eines Schicksallosen". Als Kind einer assimilierten jüdischen Familie in Budapest geboren, wurde der Fünfzehnjährige im Juli 1944 nach Auschwitz, anschließend nach Buchenwald deportiert. Diese "Episode" seines Lebens bis zur Befreiung im April 1945 und Rückkehr in die ungarische Hauptstadt begann Kertész ab 1960 niederzuschreiben.

Die Geschichte des jugendlichen György, der während der Selektion an der Lagerrampe fast die Perspektive der Täter einnimmt und sich in der Folge praktisch in eine Leiche verwandelt, um schließlich von Mitgefangenen gerettet zu werden und seine eigene Auferstehung zu erleben, gehört zu den radikalsten Büchern über die Schoa. Kertész reizte darin nicht nur alle literarischen Möglichkeiten aus, bis über deren Grenzen hinaus, das Buch -eine Inversion des Lazarus-Themas -ist vor allem ein Buch der Selbsterschaffung im strengsten Sinn. Und es finden sich darin provokante Understatements folgender Art: "Sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war."

Nach dem Krieg zuerst Lagerarbeiter und Journalist, später Theatertexter und äußerst zurückgezogen lebender Übersetzer (von Nietzsche und Wittgenstein bis Joseph Roth und Elias Canetti) findet Imre Kertész, als er 1973 seinen "Roman eines Schicksallosen" fertiggestellt hat, keinen Verlag. Im kommunistischen Ungarn sei das Thema nicht mehr zeitgemäß, heißt es. Imre Kertész schreibt darüber in "Fiasko" (1999) - das Überleben im und nach dem Lager steht auch im Zentrum seiner Bücher "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind"(1992) und "Liquidation"(2003).

In den Aufzeichnungen seines "Galeerentagebuchs" (1993) wird das Lebensthema maximalistisch folgendermaßen formuliert: "Gott ist Auschwitz, aber auch der, der mich aus Auschwitz herausführte." Ein religiöses Bekenntnis ist daraus kaum abzuleiten. Und in der Nobelpreisrede 2002 hält Kertész diesbezüglich fest: "Der Holocaust konnte in meinem Werk niemals in der Vergangenheitsform erscheinen." Und: "Das wirkliche Problem Auschwitz besteht darin, daß es geschehen ist und daß wir an dieser Tatsache mit dem besten, aber auch mit dem schlechtesten Willen nichts ändern können."

Etwas zu sagen haben

Neben der selbstironisch absurden Erzählung "Budapest, Wien, Budapest"(2001) über seine erste Auslandsreise im Jahr 1990 und die Schikanen beim Überqueren der ungarisch-österreichischen Grenze gehören die Essays und Reden von "Die exilierte Sprache" zu den am leichtesten zugänglichen Büchern von Imre Kertész. "Ein Schriftsteller muss sich vor allem davor hüten, geistreich zu werden, wenn er nichts mehr zu sagen hat", heißt es da einmal. Der Akzent liegt auf "etwas zu sagen haben". Kertész, der in den 1990er-Jahren schrittweise immer mehr zum Festredner bei Gedenkveranstaltungen wurde, wehrt sich gleichzeitig vehement gegen diese Rolle und jegliche Art von "Holocaustbusiness"; Diskussionen über die "Möglichkeit, nach Au-

schwitz noch Gedichte zu schreiben", empfindet er sukzessive als lähmend.

Der Nobelpreis, den er 2002 für "Roman eines Schicksallosen" erhält, ist für den Lakoniker Kertész eine "Glückskatastrophe", die unter anderem dazu führt, dass er jetzt immer wieder und fast nur noch zu seinem Lebensthema befragt wird. Der "Wert von Auschwitz" steht im Zentrum seines beharrlichen Weiterfragens nach dem eigenen, säkularen Judentum, aber auch nach Europas Vergangenheit und Zukunft, nach Deutschland und dem Leben in der kommunistischen Diktatur. Und Kertész versucht zu beantworten, was es denn heiße, "Medium von Auschwitz" zu sein, wozu er sich selbst erklärt hatte. Am Ende weiß er dazu nur noch: "Ich bin nicht länger Holocaust-Clown."

Imre Kertész polemisiert mehrfach gegen den Regisseur Steven Spielberg, den er unverhohlen "Holocaustvoyeur" nennt -der immerhin bedenkenswerte Umstand, dass "Schindlers Liste" Millionen von Menschen überhaupt erst an die Konzentrationslager erinnerte, rechtfertigt in seinen Augen dessen "Kitsch" nicht im Geringsten.

Den Berliner Streit über das Denkmal "für die ermordeten Juden Europas" kommentiert er, der mittlerweile als Nobelpreisträger zum Festredner in den deutschen Bundestag eingeladen wird, gnadenlos sarkastisch als "Holocaustkindergarten". Der im Gefolge des deutschen "Historikerstreits" und nach Ende des Sowjetsystems vielfach diskutierte Vergleich von deutschen Konzentrationslagern und sowjetischem Gulag wird rigoros als "Mythologisierung" zurückgewiesen; allerdings betont Kertész, dass es gerade das Leben im dekadenten, ungarischen Stalinismus gewesen sei, das nicht nur seinen Selbstmord à la Paul Celan oder Jean Améry verhindert habe, sondern ihm auch jene illusionslose "Freiheit" erlaubte, die ihm erst eine Sprache für das Konzentrationslager gab: das Maß jener Subjektivität, das allen Totalitarismen entgegensteht, die exilierte Sprache des Romans.

Wirkliche Begeisterung bringt er nur auf angesichts der Unbestechlichkeit des ungarischen Exilschriftstellers Sándor Márai ("Die Glut") oder eines Films wie "La vita è bella" von Roberto Benigni: ein trauriges Poem, das ihn ermutige, am Zustand der Welt nicht gänzlich zu verzweifeln.

Rückkehr nach Budapest

Wird Imre Kertész mitunter doch nur geistreich, findet sich sogleich ein ironischer Ausweg: Er wird direkt. "Es ist gut, sterblich zu sein", heißt es im Essay "Von der Freiheit zur Selbstbestimmung". Und das Leben in der ihm immer fremder werdenden Heimatstadt Budapest resümiert er mit: "Es ist die Liebe, die mich am Leben erhält." Das ist nicht mehr Ironie, sondern Neues Testament nach Auschwitz. Am Ende einer Israelreise, auf der er sich beim Gedanken ertappt, lieber einen Davidsstern auf einem israelischen Panzer als auf der eigenen Brust zu sehen, sagt er beim Verlassen des Flugzeuges: "God save Israel!" Jemand aus der Mannschaft fragt verwundert zurück: "What did he say?" Der Dialog ist fast eine Minimaldefinition von Imre Kertész' Literatur. Man glaubt im ersten Moment, nicht richtig gehört zu haben, und fragt sich, ob so etwas überhaupt gesagt werden darf.

Das Leben nach der "Glückskatastrophe" des Nobelpreises mit unzähligen Ehrungen und Auszeichnungen sowie zahlreichen Reisen samt Vorträgen nimmt Mitte der Nullerjahre mit dem Ausbruch einer Krankheit ein abruptes Ende. "Ich habe Parkinson, sonst wäre ich nie zurückgekommen", erklärt Imre Kertész in einem späten Spiegel-Interview nach zehnjährigem Berlin-Aufenthalt über seine Rückkehr in die Geburtsstadt. Im späten Tagebuchroman "Einkehr" (2015) formuliert er noch einmal maximalistischer als je zuvor: "Das Leben ist ein Irrtum, den auch der Tod nicht korrigiert". Imre Kertész ist am Donnerstag vergangener Woche in Budapest gestorben.

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