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Richard Obermayrs zweiter Roman „Das Fenster“ gibt den Blick frei auf die Möglichkeiten der Literatur.

Er gehört nicht zu den Autoren, die ständig aufmerksam machen auf sich selber: Richard Obermayr, geboren 1970 in Ried im Innkreis, hat 1996 am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teilgenommen, 1998 seinen ersten Roman veröffentlicht („Der gefälschte Himmel“) und danach noch einige bedeutende Auszeichnungen erhalten (Adalbert-Stifter-Stipendium, Hermann-Lenz-Stipendium, Robert-Musil-Stipendium), aber sich keineswegs beeilt, dem ersten und damals von der Kritik gleich hochgelobten Roman einen zweiten folgen zu lassen. Jetzt allerdings liegt dieser vor: „Das Fenster“.

Wieder ein Roman, der keine nacherzählbare Geschichte präsentiert, wenngleich hin und wieder kurze Szenen einer Familiengeschichte aufblitzen. „Ich blieb stehen und drehte mich noch einmal um und blickte zurück auf unser Haus und sah den Garten, der einst ein Garten war und nie mehr ein Garten sein wird, nur noch ein Paradies der Müdigkeit, in dem meine Mutter sich über Rosen beugt, in dem mein Vater im Schatten der Kastanie sitzt und die Zeitung liest.“

Wer nach einer solchen Eröffnung eine Abrechnung erwartet, eine polemische Auseinandersetzung mit einer Welt, die den eigenen Untergang nach Kräften befördert hat, wird enttäuscht. Die Figuren, die das Ich im Rückblick konstituiert, bleiben nämlich ungreifbar und unangreifbar wie das erzählende Ich selbst, das sich immer wieder zurückfallen lässt in ein anderes, ein früheres Leben, in eine Zeit, die verloren ist, in eine Zeit aber auch, die nicht mehr zurückgeholt werden kann in die Erinnerung – wie ein Leben, das niemand geführt hat, obwohl man es doch hätte wählen können: Konjunktiv-Konstruktionen, Potentialis und Irrealis (letzterer in nicht immer ganz perfekten Formulierungen) deuten in vielen Passagen an, was denkbar gewesen wäre und was doch unrealisierbar gewesen ist.

Wäre das erinnerte Leben allein nicht wert, aufgezeichnet zu werden? Da ist nur eine Leere, die alles zusammenhält, wie das Vakuum in den beiden Magdeburger Halbkugeln, die Otto von Guericke zum ersten Mal 1654 auf den Reichstag in Regensburg mitgebracht hat. Was das Ich viel mehr fesselt als das erinnerte Leben, ist das nicht gelebte Leben, das in der Familie nie in Erwägung gezogen worden, nie auch nur zur Sprache gekommen ist, weil es einer Ungeheuerlichkeit gleichkäme, über ein anderes, schöneres als das gewohnte Leben zu sinnieren.

Im falschen Leben

So richten sich die Personen der Handlung im falschen Leben ein; nur das Ich versucht, aus der Geschichte, in die es geraten ist, wieder herauszukommen, die Grenzen des Erlebten und des Erinnerten zu verwischen und sich auch auf Geschichten einzulassen, die sich nie ereignet haben, sich aber gleichwohl doch hätten ereignen können.

Die sogenannten wahren und die so genannten erfundenen Geschichten folgen dabei nicht hintereinander, sondern vermischen sich: die Geschichte einer nur kurz währenden Liebe; die Geschichte des Vaters, der sein Leben verfehlt hat; die Geschichte der Mutter, der irgendwann einmal jemand einen Revolver in die Hand gedrückt hat – alle diese und viele andere Geschichten tauchen auf und mischen sich mit weiteren Geschichten, die nicht weniger unerhörte Ereignisse und vor allem auch nicht beglaubigte Begebenheiten vermitteln.

Zum Beispiel die Geschichte der jungen Frau, die zu einem Begräbnis gekommen ist: wie sie das Gesicht des Verstorbenen betrachtet ... wie sie sich abwendet vom Sarg, mit einem Gesichtsausdruck, als habe sie sich soeben in den Toten verliebt ... wie sie, da sie sich unbeobachtet fühlt, dem Toten die Blume aus der Hand nimmt, um sie in ihr Gesangbuch hineinzulegen ...

Es gibt, für das Ich steht das außer Frage, „noch eine zweite Wirklichkeit, in der sich die langsamen Abenteuer unserer Gefühle abspielen, in einer Zeit nebenan.“ – Im Rückblick auf eine gelebte, auf eine verlorene Zeit, in der das Leben alles andere als langsam verronnen ist, in der fast alles verpasst worden ist, öffnet Richard Obermayrs neues und neuerlich faszinierendes Erinnerungsprojekt ein Fenster, das den Blick freigibt auf die Macht der Imagination: auf die Möglichkeiten der Literatur.

Das Fenster

Roman von Richard Obermayr

Jung und Jung 2010

267 S., geb., 22,–

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