Immer wieder hat Dänemark Sonderregelungen in der EU beansprucht. Warum nicht aus dieser Sünde eine Tugend machen? Warum nicht anhand dieses Beispiels die erweiterte Union gestalten?
Ehemalige Generäle werden die besten Demokraten und erfolgreichsten Friedensstifter. So hat es mit dem Verweis auf Yitzhak Rabin in Israel immer wieder geheißen - zur Beruhigung, wenn wieder einmal ein kompromissloser Frontkämpfer zum Ministerpräsidenten gewählt wurde und damit erneut die Hoffnungen auf eine Konfliktbeilegung in Nahost einen Dämpfer erhielten. Ähnlich lautet die Argumentation auch jetzt im Falle Dänemarks, das mit dieser Woche die Präsidentschaft in der Europäischen Union übernimmt: Es wird ein gutes, erfolgreiches, wegweisendes halbes Jahr für die Union werden - trotz der vielen Einwände, trotz der schweren Bedenken. Denn in der heikelsten und schwierigsten Phase seit Gründung der Gemeinschaft steht damit ausgerechnet jenes Land an der EU-Spitze, das sich in den letzten Jahren vor allem wegen seiner Europa-Skepsis einen Namen gemacht hat. Das EU-Land, für das die meisten Ausnahmeregeln gelten, soll jetzt ohne Wenn und Aber die Erweiterung der Union umsetzen. Genau das Land, in dem seit dem 1. Juli harte Ausländergesetze in Kraft getreten sind, steht just seit diesem Tag einer Union vor, in der nichts so wichtig und vorrangig ist wie die erfolgreiche Integration.
Dass trotz Zweckoptimismus der Wandel vom Falken zur Taube - um beim eingangs erwähnten Vergleich zu bleiben - keine ausgemachte Sache ist, zeigt das jüngste Negativbeispiel namens Ariel Sharon in Israel. Und dass die dänische Mitte-Rechts-Regierung sich nur mit Hilfe der Haider-Imitatorin Pia Kjärsgaard und ihrer fremdenfeindlichen Volkspartei, die sich als der "schärfste Gegner der EU" bezeichnet, an der Macht halten kann, relativiert die Europa-Willensbekundungen von Dänemarks Premier, den Außen- und Europaministern ebenfalls beträchtlich. Und dennoch, es scheint Anders Fogh Rasmussen, Per Stig Möller und Bertel Haarder - um bei der vorhin genannten Reihenfolge zu bleiben - mit ihrem Pro-Europa- und Pro-Erweiterungs-Kurs ernst zu sein. Kjärsgaard "macht bei uns nicht EU-Politik", antwortete der Premier auf die Journalistenfrage, wie er auf die Europafeindlichkeit der Rechtspopulistin, die seine Minderheitsregierung erst ermöglicht, zu reagieren gedenkt. Eine Replik, die man auch hier zu Lande, wo die dänische Machtkonstellation ja durchaus bekannt ist, schon oft genug zu hören bekommen hat. Deshalb lässt sich aus der in Österreich gewonnenen Erfahrung heraus hervorragend beurteilen, was diese Ansage von Rasmussen wert ist: Gar nichts!
Pia Kjärsgaard wird gegen Europa quertreiben und opponieren wann immer es ihr ins Konzept passt. Und an Gelegenheiten dazu wird es nicht fehlen, denn die bis Jahresende anstehende Agenda eignet sich wie kein anderes Thema, um Ressentiments gegen das vergemeinschaftete Europa zu schüren. Dass sie dabei mit einem zustimmenden Echo aus der dänischen Bevölkerung rechnen darf, darauf kann Kjärsgaard berechtigt hoffen. Denn die Anti-EU-Maschinerie sei wie ein schlafendes Tier, ist Bertel Haarder nach wie vor überzeugt. Und dieses unberechenbare Wesen würde aufwachen, so der dänische Europa-Minister, wann immer die Regierung zum Zwecke einer besseren Integration des Landes in die Europäische Union eine Volksabstimmung ankündige. Mit Hilfe derselben haben die Dänen vor mittlerweile genau zehn Jahren den Vertrag von Maastricht abgelehnt. Das führte zu einer weit über die Grenzen Dänemarks hinausreichenden politischen Erschütterung, weil damit die Transformation der damaligen Europäischen Gemeinschaft in die Europäische Union zu scheitern drohte. Indem man dem Land vier Sonderregelungen in den Bereichen Währungsunion, Sicherheit, rechtliche Kooperation und Unionsbürgerschaft zugestanden hatte, konnte noch einmal das Schlimmste abgewendet werden.
Flexibilität als Maxime
Aber warum nicht die Erfahrungen aus dem damaligen Debakel konstruktiv für die Lösung der anstehenden Schwierigkeiten in einer einmal 25 und mehr Staaten umfassenden Union nutzen? Warum nicht die aus der Not geborene Flexibilität zur Maxime einer EU machen, die mit der Erweiterung einen bisher unbekannten Grad an innerer Heterogenität aufweisen wird? Warum nicht die als Sünde wider den EU-Geist verschrieene Aufweichung der Uniformität und Gleichzeitigkeit zur Tugend erklären?
Immer wieder hört man in der Debatte um die Erweiterung den Begriff des "imperial overstretching". Gemeint ist damit die Überforderung und Überdehnung politischer Konstrukte bis zur Lähmung und Unregierbarkeit. Vergleiche mit einstigen Weltreichen und deren Zerfall werden dann gerne gezogen und der mahnende Finger gegen eine sich angeblich zu Tode erweiternde Union erhoben. Die Warnung ist berechtigt, die schleppende Institutionenreform sowie die sich hinziehende Strukturanpassung der Union können diesbezügliche Befürchtungen ebenfalls nicht überzeugend entkräften.
Der daher mit Schrecken erwarteten "Nacht der langen Messer" beim Mitte Dezember stattfindenen Gipfel in Kopenhagen, bei dem die Erweiterung unter Dach und Fach gebracht werden soll, werden viele "Nächte der langen Messer", viele zähe Verhandlungen, viel Streiten und Ringen vorausgehen. Da kann es durchaus von Nutzen sein, wenn ein Land, das im Finden von Kompromissen geübt ist, den Vorsitz führt. Da kann Dänemark, bekannt für sein Beziehungs-Auf und -Ab zur EU, doch wahrscheinlich einiges dazu beitragen, dass die europäische Achterbahn letzten Endes in einen guten Bahnhof einfährt.
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