Warum es noch keine europäische Identität gibt

19451960198020002020

Die Identitätsgrundlage des neuen, erweiterten Europa liegt in seiner kulturellen, sprachlichen und regionalen Differenzierung.

19451960198020002020

Die Identitätsgrundlage des neuen, erweiterten Europa liegt in seiner kulturellen, sprachlichen und regionalen Differenzierung.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Weimarer Republik war eine Demokratie - doch ohne Demokraten. Heute haben wir ein wiedervereinigtes Europa - aber haben wir "Europäer"? Die heftigsten Querelen im Westen gelten im Moment den wirtschaftlichen Folgen der Osterweiterung, schon weniger den Diskussionen um den wieder näher gerückten Verfassungsvertrag. Doch allein der Geräuschpegel dieser EU-Debatten macht jene Stimmen schwer hörbar, die sich mit Geist und Identität der Union von jetzt 25 Nationalstaaten befassen. Gibt es überhaupt diese Klammer von gemeinsamem Geist und Identität? Oder geht die Rhetorik von "Schicksals- und Wertegemeinschaft" am so oft beschworenen europäischen Bürger vorbei?

"Die Europäer sind auf die Rolle reduziert worden, die die Griechen im Römischen Reich innehatten. Die nützlichste Rolle, die ein Italiener oder Franzose heute noch spielen kann, ist die, einem Amerikaner oder Japaner beizubringen, bei welcher Temperatur Rotwein zu trinken ist." Es war der italienische Publizist Luigi Barzini, der vor 20 Jahren seiner Skepsis diese sarkastischen Worte verlieh. Der spätere Integrationsprozess widerlegte freilich das Bild der "Eurosklerose".

EU in "Erfolgsfalle"?

Nach Einführung des Binnenmarkts, der gemeinsamen Währung und nach dem jüngsten Erweiterungsschub soll eine Verfassung das einzigartige Gemeinschaftswerk krönen. Doch rechte Freude will sich nicht einstellen. Bei den alten Mitgliedern macht sich ein Gefühl der Überforderung breit, und jener naive Enthusiasmus der Osteuropäer, der einen blitzartigen Wohlstand erhofft, beginnt bereits neuer Enttäuschung zu weichen. Steckt diese EU (in die ja nicht nur die Türkei hinein will, sondern langfristig auch der Maghreb und die Kaukasusstaaten) in einer "Erfolgsfalle" (Werner Weidenfeld)? Kann es "die Kultur" sein, die eine Verdünnung Europas verhindert und neue Kohäsionskräfte entbindet?

"Wenn ich noch einmal von vorn anfangen müsste, würde ich mit der Kultur beginnen", soll Jean Monnet gesagt haben. Es ist ein Satz aus dem politischen Poesiealbum, Jahrzehnte später von Intellektuellen gerne serviert, weil dieser Satz das inzwischen entstandene Gefühl des Ennui und der wachsenden Geschichtslosigkeit in einer "Gemeinschaft der Raffer und Rechner" (Helmut Diwald) so schön widerzuspiegeln scheint. Doch Monnet wusste es besser. Es sollte gerade eine immer engere wirtschaftliche Verflechtung sein, um jene Irreversibilität herbeizuführen, wodurch Europa für immer von den Dämonen des Nationalismus befreit wäre.

Wir-Gefühl aus der Kultur

Für immer? Mitten in den Balkankriegen hatte Kommissionspräsident Jacques Delors besorgt angemerkt: "Wenn es uns nicht gelingt, Europa in den nächsten zehn Jahren eine Seele, eine Spiritualität, einen geistigen Gehalt zu verschaffen, dann haben wir das Spiel verloren." Das Jahrzehnt ist vorbei, alle Freudenfeiern über die Erweiterung können nicht darüber hinwegtäuschen: Nur wenn sich Europa seiner gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungen und kulturellen Prägungen entschiedener bewusst wird als heute, kann jenes "Wir-Gefühl" entstehen, das Identität und damit Überlebensbefähigung erst ermöglicht. "Europa endet dort, wo diese Grundlagen fehlen", warnt der Berliner Historiker Heinrich-August Winkler vor einem EU-Beitritt der Türkei. Und der frühere polnische Außenminister Bronislaw Geremek konstatiert ein "Unbehagen an Europa", dem "mit neuen Institutionen und politischen Reformen allein nicht beizukommen [ist]: Was wir brauchen, sind Ideen".

In der Präambel der künftigen EU-Verfassung heißt es, dass Europa einen Raum eröffnet, "in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann". Dieser Erwähltheitsanspruch bildet sich auch in der symbolträchtigen Europafahne mit ihrem Kranz von zwölf goldenen Sternen ab. Doch evoziert der Verfassungsvertrag wirklich überzeugend die gemeinsamen Identitätsgrundlagen Europas? Zweifel sind angebracht, wenn man sieht, wie es die Präambel nicht wagt, das christlich-jüdische Erbe Europas mit mehr als einer kurzen Floskel anzusprechen; wie die Verfassung der Demokratie als oberstem Wert huldigt, während in der Praxis das Demokratiedefizit der EU sprichwörtlich ist; wenn man die Neigung spürt, sich in Abgrenzung zu Amerika zu verstehen, wo doch jeder Versuch einer Gegenpol-Bildung zu den USA die EU eher spalten als einen wird.

"Terror der Ökonomie"

Dazu kommt die diffundierende Wirkung dessen, was Hugo von Hofmannsthal schon 1916 so beschrieb: "Maximale Zuspitzung und Ausbreitung des Verlangens nach Geld in unserer Zeit: geistige Krankheit ... Grundohnmacht in der Tatsache, dass nichts Eigentliches mehr gegeben werden kann, außer Ware." Ohne dieses Tremolo Hofmannsthals meinen heute die Kritiker eines entfesselten Neoliberalismus etwa das Gleiche. Doch schon die Bestsellerautorin Viviane Forrester hat vor kurzem in Frankreich den "Terror der Ökonomie" vergeblich bekämpft, und auch die jugendlichen Gläubigen von "Attac" werden daran nichts ändern. Europa muss es wagen, tiefer zu bohren. Die Codeworte heißen Kultur und Identität. Pointierter formuliert es (ähnlich wie Geremek) Robert Spaemann: "Ohne die letztlich religiös verankerte Idee der Menschenwürde wird Europa nur noch ein geografischer Begriff sein."

1955 sprach der Religionsphilosoph Romano Guardini von der "Sorge, was Europa groß gemacht hat, könnte ihm zum Verhängnis werden - so wie einst Hellas an seiner eigenen Differenzierung und Spannungsfülle zugrunde gegangen ist ... (Denn) Griechenland hat vor der höchsten ihm geschichtlich gestellten Aufgabe, nämlich zu einer echten Gemeinschaft zusammenzuwachsen, versagt." Guardinis Sorgen haben sich (bisher) nicht bestätigt, die europäische Integration ist ein geglücktes Beispiel für institutionelles Lernen aus der Geschichte. Doch besteht heute nicht die Gefahr, dass ein den Bürgern ferner werdendes Wirtschaftseuropa in der Zentrifuge der Globalisierung jenen Reichtum der (kulturellen, sprachlichen, regionalen) Differenzierung verliert, der es mitkonstituiert?

Fruchtbare Spannungen

Jeder Rückblick auf die Anfänge der Einigungsbemühungen zeigt, dass sich Europas Völker gerade deshalb nach Einheit sehnten, weil dieser Kontinent so viele mörderische Spaltungen erlebt hatte. Zugleich gehört zur Geschichte Europas von Anfang an unabdingbar die Erfahrung der Freiheit - Freiheit von Fremdherrschaft und Freiheit als Selbstbestimmung. Weil aber Freiheit auf Dauer nie auf Kosten der Freiheit anderer existieren kann, bedeutet sie immer auch die Anerkennung des Anderen - anderer Sprachen, Kulturen und Traditionen unter dem gemeinsamen Dach Europas. Natürlich erzeugt diese Vielfalt auch Spannungen, doch Toleranz und Gleichberechtigung, die Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte machen sie zumindest erträglich. Und in der Geschichte haben solche Spannungen immer wieder staunenswert schöpferisch und fruchtbar zu werden vermocht. Warum sollte das nicht für die EU nach ihrer Ost- und Süderweiterung ebenfalls gelten?

Osteuropäische Vitalität

Auch bei Intellektuellen ist Jammern auf hohem Niveau zu einer Art Mode geworden. Sogar George Steiner beklagt, dass "unsere Kultur ... traurig (ist)": "Es gibt in Europa nur zwei Länder, in denen die Jungen noch wirklich und viel lachen: in Irland, dessen Theater und Literatur geradezu explodieren, und in Spanien, das sich noch immer von Franco erholt." Steiner hat die jungen Osteuropäer nicht im Auge gehabt. Ihnen eröffnet sich im wiedervereinigten Europa eine Welt ungeahnter Möglichkeiten. Ihre Unterdrückungserfahrung wird zum Bonus neuer Kreativität. Ihre Freiheitslust könnte sich zur Frischzellenkur für ein missmutiges "Alteuropa" entwickeln - wenn diese osteuropäische Vitalität den Fragen der innersten Identität nicht ebenfalls auszuweichen beginnt.

Wer das größere Europa aus der Perspektive der Fun-Society, der meisten Massenmedien, des politischen Scheinbetriebs oder der vermeintlich übermächtigen Globalisierung betrachtet, wird darin wenig Zukunftsträchtiges finden. Ein solches Europa nivelliert, die Erfahrungsschätze der Vergangenheit könnten versanden. Doch der Mensch lebt nicht vom Brot allein, auch nicht von der Economy of scales oder den Vorteilen der Kostenkomparation.

Wer im gleichen Europa das Aufblühen von Stadtkulturen und von Regionen, von Sprachinseln und Spezialliteraturen erlebt, sieht fast eine List der Geschichte am Werk: Europa lässt sich nicht homogenisieren. Die Zeugungskraft Europas besteht in seiner immer neuen Neigung zu Differenzierung. Ob diese Union darüber hinaus handlungsmächtig sein wird, ist eine andere Frage.

Der Autor ist Präsidiumsmitglied der Katholischen Aktion Österreichs.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung