Europa - leicht überarbeitet

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Der italienische Philosoph Giorgio Agamben legt den Traum von einem "lateinischen Reich“ wieder auf. Indem er Grenzen überwinden will, zieht er freilich neue alte.

Ein Ende der europäischen Finanzkrise ist nicht in Sicht. Kaum scheinen sich die Aktienmärkte erholt zu haben, schwanken die Kurse bereits. Im Schuldentaumel geraten nicht nur ganze Länder in Balanceprobleme, sondern die Idee der Europäischen Union selbst steht zur Diskussion. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben (* 1942) hat sie mit einem Aufsatz angeschärft, der vor einigen Wochen zunächst in La Repubblica und dann in der Libération veröffentlicht wurde. Der prominente Auftritt verschafft der Position Agambens eine europäische Wirkung. Zugleich vermittelt sich mit der Wahl der beiden Zeitungen sein politisches Interesse.

Es geht um eine Neuformatierung Europas, die Agamben im Anschluss an den französischen Philosophen Alexandre Kojève (1902-1968) im Zeichen eines "lateinischen Reiches“ sucht. In einer Denkschrift aus dem Jahr 1945 hatte ihr Verfasser die "Skizze einer Doktrin der französischen Politik“ entworfen. Ihr Kern: im Schlagschatten des Zweiten Weltkrieges bilden sich zwei Machträume, die Frankreich politisch wie ökonomisch unter Druck setzen. Der angloamerikanische Block mit seiner kapitalistischen Ausrichtung auf der einen Seite, der sowjetrussische Block auf der anderen, der kommunistischen Seite. Bei beiden handelt es sich um Imperien, die das Ende der nationalstaatlichen Ordnung Europas markieren. Um zu überleben, darf Frankreich nicht in die Drift dieser politischen Eisberge geraten - und es muss auf einen weiteren Druckfaktor achten: das neue Deutschland. Früh hat Kojève die wirtschaftliche Potenz Deutschlands erkannt und seine Vormachtstellung gefürchtet. Für den Ausgleich der europäischen Kräfte bedarf es einer Allianz von Frankreich, Italien und Spanien - eines "lateinischen Reichs“. Es muss transnational sein, aber der kulturellen Identität der beteiligten Völker Rechnung tragen.

Nationales Ressentiment

Agamben knüpft an Kojèves Idee an, um die Idee Europas anders aufzusetzen. Aus seiner Sicht ist sie einseitig ökonomisch aufgesetzt. Ohne kulturelles Band bleibt die europäische Gemeinschaft ein Handelsabkommen zwischen bloßen Vorteilsnehmern. "Einer Mehrheit von Ärmeren werden die Interessen einer Minderheit von Reicheren aufgezwungen, die zudem meistens mit denen einer einzigen Nation zusammenfallen, wobei man letztere angesichts der jüngeren Geschichte keineswegs als vorbildlich betrachten kann.“

Die Empörung über diesen Satz schäumte vor allem in deutschen Zeitungen hoch. Ein nationales Ressentiment setzt sich in einem Text durch, der sich auf eine doppelte Überschreitung festlegt: auf die nationaler Grenzen und die einer Ausschließung der Armen vom Reichtum Europas. Wer überdies von einem lateinischen Reich des südlichen Europas träumt, muss sich an dessen faschistischer Vergangenheit ebenso messen lassen wie Deutschland. Und wer sich auf Kojèves Denkschrift einlässt, darf wissen, auf welcher Basis dieser argumentiert. Das lateinische Reich soll verbunden sein durch eine gemeinsame Kultur, eine Mentalität der Lebensformen. Dazu bedarf es militärischer wie ökonomischer Sicherheiten. Die entsprechenden Ressourcen findet Kojève in den Kolonien. Sie gilt es auszubeuten. So kann es nicht verwundern, dass auch das eigentliche Ziel dieser lateinischen Reichspolitik auf Kosten des Weltrests geht. Ein möglicher dritter Weltkrieg muss unbedingt von Frankreich ferngehalten werden. Asien bietet den Ausweichraum.

Dieser unerträgliche Zynismus spiegelt sich im inneren Widerspruch Kojèves wider. Das nationale Interesse Frankreichs steuert das neue Reich, während ihr Architekt das Ende des nationalen Zeitalters in Europa proklamiert. Ungehemmt setzen sich hegemoniale Ansprüche durch. Schamfrei nimmt er die christlichen Kirchen dafür in Haft. Katholisch hat das lateinische Reich zu sein und sich der transnationalen Ausrichtung der Kirche zu bedienen. Dabei stiftet nicht der christliche Glaube die tiefere Einheit, sondern die kulturelle Verwandtschaft, die sich im Religiösen absetzt. Jenseits von ökonomischer Verzweckung nimmt dieses lateinische Reich der freien Künste seinen Betrieb auf. Aber es beruht auf scharfen politischen Ausschließungsmanövern.

Ökonomie des Lebens

Agamben musste das sehen. Kaum jemand hat die humanen Ausschließungspolitiken philosophisch so scharfsinnig freigelegt wie er. Was aber hat ihn geritten, sich auf dieses zweifelhafte Memorandum zu berufen? Der Widerspruch gegen Agambens Nachtraum vom lateinischen Reich ist breit vorgetragen, hart durchargumentiert. Den "Seher mit philosophischer Zipfelmütze“ (Habermas über Agamben) ins Abseits zu stellen, fällt leicht. Wer aber verstehen will, was Agamben umtreibt, muss sich auf seine politische Theologie einlassen. In einem Vortrag über "Reich und Kirche“, den er in der Fastenzeit 2009 in der Pariser Kathedrale Notre-Dame gehalten hat, bestimmt er die Zeit der Kirche als messianische Zeit. Sie setzt mit der Auferstehung von den Toten ein, mit der Umstellung aller Verhältnisse vom Tod auf das Leben. Eine neue Ökonomie tritt in Kraft, und sie widersetzt sich der "blinden, höhnischen Herrschaft der Ökonomie, die in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens vordringt“. Agambens politische Intuition setzt hier an. Das ist es, was ihn am Katholischen fasziniert: die kulturelle und religiöse Aufhebung von Grenzen.

Indem Agamben nationale Blindmuster neu auflegt, unterbietet er das Niveau des eigenen Ansatzes. Politisch macht er sich angreifbar. Mit dem Nachdenken über die Funktionsfähigkeit eines lateinischen Reiches ist man schnell am Ende. Aber Agambens streitbares Beharren auf einer echten Lebensidee Europas behält Einspruchsrecht. Dem Leben in der verwalteten Welt setzt er einen europäischen Diskurs entgegen, in dem sich die Kunst, die Philosophie, die Religion, die eigenwilligen nationalen Lebensformen als Gegenmacht gegen den Überhang des bloß Funktionellen behaupten.

Franziskanisches Christentum

Zu hastig in seinen Analysen, gebunden an imperiale Festlegungen, hinterlässt Agamben Europa eine Herausforderung: in einem politisch-theologischen Sinn messianischer zu werden und tödliche Ausschließungen zu überwinden. Seine Lösung ist keine. Aber vielleicht kann die alte, neue franziskanische Vision des Christentums eine Antwort auf die europäische Frage geben, die Agamben, anfechtbar genug, umtreibt. Es wäre ein Europa, das an seinen Grenzen nicht Halt macht, um der Würde aller Menschen Lebensraum zu geben - das erste Imperium der Geschichte, das auf seiner Selbstüberschreitung beruht.

Der Autor ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Salzburg

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