Seit ich aus den Ketten befreit bin, hatte kein anderes System eine Chance bei mir. Ich möchte, dass du das weißt, Europa! Als wir uns gestern trafen, habe ich mich bemüht, den sachlichen Ausdruck zu wahren. Ich will nicht um den heißen Brei reden, deshalb kommt noch ein Brocken über Gefühle.
Dass du mit deiner Familie sehr eng verbunden bist, weiß ich, und ich möchte, dass du weißt, dass es mir nicht darum gegangen ist oder geht, dass ich dich "Totum pro Toto" beanspruchen will. Was mich traurig gemacht hat und letztlich schmerzt, war das Ungleichgewicht der Sehnsucht. Du sollst mich dazunehmen.
Politik ist ja gut. Was du an meiner Liebe hast, kannst du nicht kaufen. Ich spüre nicht, dass du mich vermissen würdest, wie ich dich vermisste. Ich vermisse dein Vermissen! Ich wähnte mich "ausgeknipst", aus den Augen, aus dem Sinn, das Gefühl einer inneren Verbundenheit, sag Solidarität dazu, war nicht mehr da, als es um die Kohle ging. Das geschah schon Ende Jänner. Ich war mir darauf aber unsicher und ambivalent meiner Einschätzung gegenüber, bin es bis heute geblieben. Ich wollte dich gern auf eine Reise einladen, du hast mir gesagt, du seist nicht verfügbar im Sommer und könntest deshalb nicht kommen -und nun bist du doch hier am Strand und genießt meine Buchten und sehnst dich nach funkelndem Meer und den Inseln. Auch das lässt mich schließen, dass du nicht wirklich willst mit mir, wie ich mit dir -also wiederum ein Ungleichgewicht. Bitte verstehe das nicht als Vorwurf! Ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen werde. Habs nicht schön, du sollst mich schließlich vermissen, wie ich dich, Europa.
Aber natürlich schicke ich dir von Herzen, "Habs schön" und "Gehab dich wohl", um dich zu zitieren, oder wie immer das heißen mag in der politischen Sprache, die sich ja nicht mit Gefühlen mischen soll.
Dein Grexit
Die Autorin ist Schriftstellerin
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