Europäische Geschichten

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Europa zwischen Gedenken und Verfassungszukunft.

Gerade die letzten Tage, an denen des Kriegsendes vor 60 Jahren gedacht wurde, zeigten einmal mehr: Jedes Land, jedes Volk hat seine Siege und Niederlagen, seine Triumphe und Traumata. Das auf die Terrorherrschaft des ns-Regimes bezogene "Nie wieder" ist nur der Firnis der Einigkeit, darunter treten die je eigenen Geschichten deutlich hervor.

Auf dem Roten Platz fand man zur gemeinsamen Erinnerung zusammen, davor und danach wurden die durch Diplomatie nur notdürftig übertünchten Bruchlinien sichtbar. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Balten und die anderen Osteuropäer sich künftig von Berlin und Paris besser verstanden wissen könnten als von Washington. Die unverblümten Worte, die us-Präsident Bush zuletzt zu Freiheit und Unterdrückung gefunden hat, werden in Warschau, Prag, Riga auf offene Ohren gestoßen sein. Dass diese Achse über die Grenzen der Europäischen Union hinaus reicht, zeigte Bushs Besuch in Georgien im Anschluss an die Moskauer Siegesfeiern. Der Wandel hin zur Demokratie in der Kaukasusrepublik sei auch eine "Inspiration für andere", erklärte der us-Präsident.

Nun ist schon klar, dass George W. Bush diese seine Europa-Reise geschickt im eigenen Interesse zu nutzen suchte: indem er eine Kontinuität von der Befreiung vom ns-Terror über die Bezwingung der kommunistischen Diktaturen bis hin zum aktuellen Kampf gegen den Terror - mit dem hehren Anspruch der Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens - herstellte. Gerade aber was den letzten Punkt betrifft, gibt es noch immer gute Gründe zur Skepsis: Lässt sich die pax americana auch auf diesen Raum ausdehnen - und um welchen Preis? Was aber setzen die "alten Europäer", also im wesentlichen Deutschland und Frankreich, der amerikanischen Strategie, die ja immerhin auch stets mit einer Vision verbunden war, entgegen? "Ein deutscher Bundeskanzler ... weiß kaum noch, wie man das Wort Freiheit buchstabiert. Ein französischer Präsident ... bändelt mit Gegengewichten' an, deren Stallgerüche unangenehm in die Nase steigen", hält Hansrudolf Kamer in der Neuen Zürcher Zeitung fest. Was sehen Polen, Tschechen, Ungarn, Esten, Litauer, wenn sie nach Berlin und Paris schauen? Hemdsärmelig polternde Außenpolitik im einen, Arroganz der Macht im anderen Fall. Beide setzen - jenseits von Sonntagsreden bei Pflichtterminen - ganz unverhohlen auf die nationale Karte, ja, versuchen oft gar nicht mehr ernsthaft, nationale Interessen als europäische Anliegen zu tarnen (was wenigstens ehrlicher ist): vom Stabilitätspakt und der Diskussion zur eu-Verfassung über das Handeslembargo gegen China bis hin zur Politik gegenüber Russland.

Der "Kanzler steht heute an der Seite des Siegers", vermerkte die Frankfurter Allgemeine mit Häme zu Gerhard Schröders Teilnahme an den Moskauer Feierlichkeiten. Doch nicht die Tatsache an sich ist das Problem, sondern, dass die politische Opportunität der von Schröder demonstrativ gesuchten Nähe zu Putin kritische Worte, wie sie etwa Bush gefunden hat, nicht zulässt. Statt dessen nennt man den Autokraten im Kreml einen "lupenreinen Demokraten". Solches wird in den neuen eu-Ländern und denen, die es werden wollen, ebenso aufmerksam registriert, wie der rüde Ton, den seinerzeit Jacques Chirac gegenüber den Osteuropäern in Sachen Irak anschlug. Wer wollte es diesen Ländern verübeln, dass die ihre eigenen Schlüsse aus solchen Erfahrungen ziehen.

Es trifft sich, dass in diesen Tagen des Gedenkens ganz Europa dem Ausgang des französischen Referendums und der auf dieses noch folgenden Abstimmungen in anderen Mitgliedsländern gespannt entgegenblickt - in banger Sorge die einen, auf ein Scheitern hoffend die anderen. Bei jeder dieser Abstimmungen droht die innenpolitische Agenda die europäische, also das, worum es eigentlich ginge, zu überlagern. Dass das so ist, haben sich die politischen Eliten in den einzelnen Ländern großteils selbst zuzuschreiben. Es geht nicht nur um soziale Unsicherheiten und Arbeitsplatzängste; die Menschen haben vielleicht auch ein feines Sensorium für die Hohlheit der Europa-Rhetorik, dafür, wie wenig ernst es ihren Staats- und Regierungschefs mit diesem Europa im Zweifelsfall ist.

rudolf.mitloehner@furche.at

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