Europäische Perspektiven

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Wenige Tage nach den 60-Jahr-Feiern der Europäischen Union ruft der Auftakt zum Brexit schmerzlich die triste Realität wieder in Erinnerung. Ist eine Wende möglich?

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Wenige Tage nach den 60-Jahr-Feiern der Europäischen Union ruft der Auftakt zum Brexit schmerzlich die triste Realität wieder in Erinnerung. Ist eine Wende möglich?

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Die Europa-Rhetorik des letzten Wochenendes mutete ein bisschen an wie das sprichwörtliche Pfeifen im Wald. Man war zusammengekommen, um den 60. Geburtstag der Europäischden Union zu feiern -genauer gesagt: die Unterzeichnung der Römischen Verträge (EWG, EURATOM), die zusammen mit der Kohle-und-Stahl- (Montan-)Union von 1951 an der Wiege der heutigen EU stehen. Retrospektiv betrachtet gibt es allen Grund zum Feiern: Die Idee der europäischen Einigung und der Überwindung blutiger Rivalitäten und Feindschaften war -zumal nach zwei verheerenden Weltkriegen - absolut faszinierend. Prospektiv gesehen kann freilich von Champagnerlaune keine Rede sein. Am deutlichsten greifbar wird dies durch die Tatsache, dass nur wenige Tage nach dem Jubiläum der offizielle Auftakt zum Austrittsprozess des Vereinigten Königreiches -eines Schlüssellandes in mehrfacher Hinsicht -erfolgte. Aber der Brexit steht hier nur als eine, wenngleich besonders grell leuchtende Chiffre neben vielen anderen beunruhigenden Zeichen an der Wand des europäischen Gebäudes.

zum erfolg verdammt

In seiner bekannt nüchtern-trockenen Art hat der in Berlin lehrende Politikwissenschafter Herfried Münkler dieser Tage bei einem Vortrag in Graz (s. auch nebenstehendes "Also sprach") klar gemacht, worum es geht: "den Westen als Stabilitätsanker gibt es nicht mehr" - und zwar "nicht, weil Trump Trump ist"; die Zäsur sei schon unter Obama erfolgt, "Trumps Rückzugsparole 'America First' ist nur die Zuspitzung dieses Paradigmenwechsels". Und, daraus folgernd: "Trump zwingt uns Europäer dazu, erfolgreich zu sein oder aber krachend zu scheitern!"

Die entscheidende Frage ist freilich: Besitzt Europa überhaupt die Fähigkeit zu dieser Einsicht, ist es sich der Dramatik seiner Lage bewusst? Und: Bringt es noch die Kraft und den Willen auf, aus dieser Einsicht gegebenenfalls Schlüsse zu ziehen? Dabei ginge es, wohlgemerkt, um Schlüsse, die nicht in einer Art moralischen Überhöhung des "europäischen Projekts" bestehen, in einer Quasi-Verpflichtung zu einem proeuropäischen Bekenntnis, dessen Verweigerung mit den aus den Spielregeln des politisch korrekten Diskurses bekannten Maßnahmen sanktioniert wird.

Gefragt, nein, unerlässlich wäre vielmehr eine gesamteuropäische Kraftanstrengung im Sinne eines Willens zur Selbstbehauptung. Denn die beiden Zauberworte, die für alles und jedes und also auch europäische Angelegenheiten als Allheilmittel gelten, nämlich "Integration" und "Inklusion", reichen für sich alleine nicht aus, bleiben ohne jene Selbstbehauptung leere Begriffe: Um etwas/jemanden integrieren oder inkludieren zu können, muss es etwas geben, in das hinein integriert bzw. inkludiert wird. Man kann das "Leitkultur" oder auch anders nennen -aber ohne dergleichen bliebe nur ziellose Diffusion.

Besinnung aufs Fundament

Nein, diese Leitkultur ist kein klar umrissenes Gebilde, kein in Stein gemeißelter Wertekanon. Sie entwickelt sich weiter, nicht zuletzt im Zuge von Integration und Inklusion. Aber das meint eben genau nicht Beliebigkeit, meint kein präventives Räumen von Positionen, keine Antworten, bevor man die Fragen überhaupt verstanden hat: Differenzen kann man erst "überbrücken"(auch so ein gängiger Begriff aus den Diskursblasen), wenn man diese Differenzen als solche wahrgenommen und benannt hat.

Das mag alles, gemessen an den konkreten Problemen, mit denen wir tagtäglich konfrontiert sind, abstrakt klingen. Aber wahr bleibt dennoch, dass ohne eine Besinnung auf das Fundament, auf das "ideelle und geistige Erbe" Europas, von dem Papst Franziskus vor den EU-Staats-und Regierungschefs zum Jubiläum sprach, die Bewältigung der Herausforderungen - ganz zentral die Schulden-und die Migrationskrise -nicht gelingen wird können.

rudolf.mitloehner@furche.at

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